Ich glaube, in der Pferdewelt sind die beiden kontroversen Richtungen „Schema F“ und „tatsächliches Hinsehen“ ziemlich präsent. In einigen Bewegungen mit dem Pferd scheint der Tellerrand so hoch wie ein Hengstzaun mit 130 Volt, bei dem man gar nicht erst darüber nachdenkt, drüberzuschauen. Für die, die jetzt glauben, ich spiele auf die Englischreiterei an, kann ich nur sagen: Nein, diese Aussage gilt generell für Menschen, die denken, sie hätten „die Weisheit gefressen“, für Menschen, die sich über andere stellen, sich und ihre Arbeit für etwas Besseres halten. Ich glaube, damit limitieren wir uns selbst und bewegen uns dennoch in unserer kleinen Welt. Selbst dann, wenn das ganz nett und „horsemen-like“ erscheinen mag.
Doch immer öfter ist auch eine andere Richtung erkennbar. In dieser Richtung sind oft Menschen unterwegs, die intensiv mit sich selbst gearbeitet haben, um eben Resultate von wirklicher Verbundenheit zu erzielen. Sie schauen über den Tellerrand und reflektieren sich ständig selbst. Sie beobachten, sie spielen, sie verändern und sie probieren aus. Sie lernen, sich wirklich auf ihr Gegenüber einzustellen, und sie lernen diese leise und absolut feine Art der Kommunikation. Dann machen Pferde Menschen und sie sind ein Vorbild für Menschlichkeit – egal, ob in der Therapie, im Sport, im Coaching, in der Freizeit oder ganz einfach im Leben.
Die Entscheidung, genauer hinzusehen und unsere Wahrnehmung zu schulen, halte ich für unglaublich wichtig. Unterschiedliche Sprachen erfordern schließlich andere Mittel der Kommunikation. Wie wir alle wissen, kommunizieren Pferde sehr selten bis eigentlich fast gar nicht über Laute. Vielleicht sagt man auch „Pferde flüstern“, weil sie Laute tatsächlich nur in extremeren Situationen nutzen. Und trotzdem funktioniert die Sache mit den unterschiedlichen Sprachen – ganz klar durch feine Wahrnehmung und eine genauso feine Beobachtungsgabe. Denn selbst wenn wir die gleiche Muttersprache sprechen, kommunizieren wir doch immer aus unserer eigenen Welt heraus – mit unseren individuellen Erfahrungen, Gedanken und Wünschen. Wir müssen uns erst verstehen lernen. Genauso ist das bei Pferd und Mensch.
Zu Beobachtungsgabe, Wahrnehmung und dem Verstehen gibt es eine kleine wunderschöne Geschichte. Die Geschichte von einem Pferd, das rechnen konnte. Sie spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wilhelm von Osten erwarb im Jahre 1900 seinen schwarzen Orlow-Traber namens Hans. Kurz darauf begann von Osten mit Trainingseinheiten. Hans sollte lernen, Rechenaufgaben und anspruchsvolle Kunststücke aus eigener Gehirnleistung zu absolvieren. Hans beantwortete die Fragen seines Trainers durch Stampfen mit dem Huf oder Schütteln beziehungsweise Nicken des Kopfes. Er konnte sogar ganze Wörter zusammensetzen. Im Jahre 1904 begutachtete eine Gruppe von 13 Wissenschaftlern die Leistung von Hans und kam zu dem Schluss, dass Hans keinerlei Hilfestellung erhielt. Er wurde als Wunderpferd anerkannt.
Foto: www.shutterstock.com/vprotastchik
Doch die Erklärung für die außergewöhnliche Leistung des Wunderpferdes lieferte schlussendlich ein Psychologiestudent:
„Schließlich war es Oskar Pfungst, damals Psychologiestudent und kritischer Beobachter der Vorführungen von Ostens, der die Entzauberung des Klugen Hans in die Wege leitete. Er hielt es für möglich, dass von Osten zwar nicht bewusst dem Pferd Befehle gab, aber unbewusst durch seine Körpersprache auf Hans reagierte. So nahm er an, dass winzige Signale der Erleichterung, nachdem Hans die richtige Zahl mit dem Huf gescharrt hatte, eine kleine Änderung der Körperspannung, eine kaum merkbare Änderung der Mimik des Lehrers das Tier veranlasste, mit dem Scharren aufzuhören.
In einer zweiten kommissionellen Prüfung des Tieres wurde diese Annahme bestätigt. Hans konnte tatsächlich die richtige Lösung auf Fragen immer dann nicht geben, wenn er den Fragesteller nicht sah oder wenn dieser die Antwort auf Fragen selber nicht wusste. Damit war Hans enttarnt – er war doch kein außergewöhnliches Rechengenie innerhalb der Pferdefamilie, aber ein ausgesprochen genauer Beobachter.“
(https://www.derstandard.at/story/2000056054980/der-kluge-hans-das-pferd-das-rechnen-konnte)
Der kluge Hans war ein Genie der Körpersprache. Er nahm die Ausstrahlung seines Besitzers wahr, in ganz feinen Nuancen der Mimik und Gestik, der Bewegung, der inneren Energie oder der Ausdrucksweise, die dieser Mensch ihm spiegelte. Dementsprechend reagierte er – leise und unauffällig.
Gerade deshalb bedeutet „Pferdeflüstern“ für mich, sich tatsächlich aufeinander zu beziehen. Sich kennenzulernen, die Sprache des anderen verstehen zu lernen, in einer gewissen Art und Weise aufeinander zuzugehen, sich selbst zu reflektieren und einen gemeinsamen Weg zu finden. Das ist der wahre Kern vom „Pferdeflüstern“ – letztendlich ein etwas paradoxes Wort mit Konfliktpotenzial, denn, wie du weißt, geht es hier nicht um leise Worte, sondern um eine Form der Wahrnehmung und der ständigen Selbstreflexion, darum, sich selbst anzusehen und die eigene Persönlichkeit und Wahrnehmung bewusst weiterzuentwickeln. Pferde sind Bewusstseinsschmiede in Perfektion.
Fünf Fragen für deine Persönlichkeitsentwicklung – im Gespräch mit Freunden oder für dich allein:
1. Was bedeutet Pferdeflüstern für dich und deine Persönlichkeit?
2. In welchen Lebensbereichen oder Situationen fühlst du dich frei und wo fühlst du dich unfrei?
3. Was war deine bisher größte Herausforderung und was dein bisher größtes Glück mit Pferden?
4. Was sagt dir dein Pferd über deine Wirkung?
5. Wie kannst du diese Erkenntnisse auch im Alltag nutzen?
Foto: Daniel Busse
Pferde stecken voller Wunder. Das heißt, wir wundern uns, wenn sie auf eine gewisse Art und Weise reagieren und gerade nicht das tun wollen, was wir von ihnen „verlangen“. Oder wir wundern uns, wenn sie genau das tun, was wir wollen, und dabei wie Hellseher ohne Glaskugel wirken.
Manchmal sind wir so sehr mit dem Wundern beschäftigt – teilweise auch mit dem Wundern über die „Ungerechtigkeit der pferdischen Handlungen“ –, dass wir gar nicht erst darauf kommen, dass das Ganze etwas mit uns zu tun haben könnte.
Pferde sind ehrlich und sie sind authentisch. Sie reagieren schlichtweg auf das, was wir ihnen sagen. Manchmal ist das etwas, von dem wir nicht einmal gemerkt haben, dass wir es ihnen vermitteln. Manchmal liegt das Gesagte auf der Hand. Und ein anderes Mal waren wir einfach nur beieinander und haben trotzdem aufeinander gewirkt. Pferde spiegeln uns klar, direkt und authentisch. Vielleicht liegt darin das Wunder.
Wie Paul Watzlawik in seinem berühmten Satz festhielt: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ In jedem Moment strahlen wir etwas Bestimmtes aus und wirken damit auf unser Gegenüber und unsere Umwelt. Es entsteht ein Dialog, von dem wir oft mehr als die Hälfte verpassen. Denn dieser Dialog geht nur leise vonstatten und wird umrandet von dieser nicht ganz unwichtigen Sache mit der Wahrnehmung. Vieles, was in unserem Leben passiert, bekommen wir einfach nicht mit. Wir leben daran vorbei und wundern uns später, warum wir in bestimmten Situationen verharren. Und wir wundern uns auch, warum die Pferde auf eine gewisse Art und Weise reagieren.
Ein paar Beispiele:
Wir belohnen unsere Pferde bei vermeintlich jeder guten Tat mit einem Leckerli und wundern uns später, warum uns das Pferd immer