Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens. Yungdrung Wangden Kreuzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yungdrung Wangden Kreuzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813464
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den Weg einer systematischen Geistesschulung betreten haben und deren Curriculum folgen, geht von Anfang an über die selbstauferlegten Grenzen des Egos hinaus, denn es ist motiviert und getragen vom Wunsch, sich selbst und alle Wesen schließlich vom Leid und von den Ursachen des Leids zu befreien. Dieses Streben nach Erleuchtung ist beseligt vom Wunsch, alle Wesen glücklich zu sehen, nicht nur uns selbst. Das Streben drückt sich aus in der Übung der sechs das Leiden und Handeln der Welt transzendierenden Tugenden oder Paramitas, die da lauten Freigebigkeit, Geduld, freudiges Bemühen, Selbstdisziplin, geistige Sammlung und Weisheit. Es ist ohne Zweifel heilsam und gut, diesen Parametern entsprechend zu handeln; und es wird uns helfen, über uns selbst hinauszugehen und unser Verhalten dem Wesentlichen in uns anzugleichen. Es gilt natürlich, auf diesem Weg der Sublimierung und des Freiwerdens stets tiefer zu gehen und dem Ego auf die Schliche zu kommen, wo immer es sich in unser Verhalten einzumischen versucht. Solange wir noch unter dem Einfluss des Egos und der sogenannten Geistesgifte stehen, werden wir all diese Tugenden nur unvollständig und auf unreine Weise üben können. Der Bodhisattva soll deshalb weiterschreitend lernen zu handeln, ohne zu handeln; das heißt, er soll die Paramitas auf eine reine Weise üben. Und das heißt: ohne Konzept eines Handelnden, einer Handlung oder eines Resultats. Zum Beispiel übt sich der Bodhisattva im Geben ohne das Konzept, dass er es ist, der gibt, ohne Begriff von dem, was er gibt, und ohne ein Konzept von jemandem, der das Gegebene empfängt.

      Es ist ein großer Fortschritt, wenn wir uns der sogenannten »Reinheit der drei Sphären« von Subjekt, Handlung, Praxis oder Erfahrung und von Objekt oder Resultat annähern und damit fähig werden, der Selbstlosigkeit und Leerheit aller Erscheinungen entsprechend zu handeln. Im Prajnaparamita-Sutra heißt es: »Der Bodhisattva übt sich in allen Tugenden, doch er hat keine Vorstellung wie ›Ich übe mich in der Tugend‹. Der Bodhisattva tut immer Gutes, aber er hat keine Vorstellung wie ›Ich tue Gutes‹.«

      Es ist klar, dass wir uns dieser Reinheit nur durch die Übung des Ruhens in nichtkonzeptuellem Gewahrsein annähern können. »Lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut«, sagt Jesus in Bezug auf das Geben und Schenken, und er meint damit dasselbe – ein selbstloses Tun im Zustand der wahren Armut oder Leerheit des Geistes.

      Die unkörperliche Klarheit des Geistes

      Es ist ein gut bekanntes Faktum, dass Menschen mit einem religiösen oder spirituellen Hintergrund und Ausblick ein leichteres Sterben haben als solche ohne eine derart tröstliche Perspektive. Vor dem Tod tritt aber für die meisten Menschen auch eine Art von terminaler Luzidität ein, und das erstaunlicherweise sogar bei Alzheimer im letzten Stadium, also mit einem stark aufgelösten Gehirn. Die Betroffenen können dann ihre Angehörigen wieder erkennen und klar mit ihnen sprechen. Auch übersinnliches Vorauswissen und Telepathie sind hier möglich.

      Es ist offensichtlich die ursprüngliche, unkörperliche Klarheit des Geistes, jenes klare Licht der Weisheit, von dem die Reanimierten erzählen, das auch hier an der Schwelle schon herüberleuchtet, wobei es natürlich auch am Einzelnen liegt, wie er darauf reagiert. Man kann sich dem öffnen oder bis zuletzt versuchen, jede Einsicht zu verdrängen.

      Mit diesem Licht kommt auch eine spontane Einsicht, dass es keinen Tod gibt. So ergeht es auch Menschen, die sich selbst töten, im Augenblick des irreversiblen Sterbens, und sie erkennen schmerzlich die Absurdität und Falschheit ihrer Handlung. Für Menschen, die, von der Annahme ausgehend, dass mit dem Tod alles aus ist oder dass dieser Eingriff sie dann nicht mehr negativ affizieren kann, einer Organentnahme zugestimmt haben, mag dies ähnlich sein. Vitale Organe können nur dann verpflanzt werden, wenn der schwerverletzte »Spender« noch lebend auf dem Operationstisch liegt. Der tibetische Buddhismus rät, den Körper eines Verstorbenen für drei Tage nicht einmal zu berühren. Er sollte in der beim Sterben eingenommenen Position belassen werden, um den Todesprozess nicht zu stören und um eine möglich tiefe geistige Ruhe im Sterben und damit seine Erlösung oder eine positive Wiedergeburt nicht zu vereiteln.

      Jemand, der eine materialistische Sichtweise verinnerlicht hat, seinen Lebenssinn ganz in dieser Welt sieht und sich völlig mit dem Körper identifiziert, stirbt im Glauben, dass der Tod das Ende von allem sei. Aber dem ist natürlich nicht so. Diese Seelen sind nach dem Exitus selbstverständlich überzeugt davon, noch zu leben. Sie verstehen lange nicht, dass sie gestorben sind, und bleiben deshalb länger erdgebunden und versuchen, sich bemerkbar zu machen. Es gibt immer mehr Fälle dieser Art – besonders wenn die Menschen durch einen Unfall, also plötzlich, aus dem Leben gerissen wurden.

      Die spirituelle Praxis des Chöd Praktizierende haben sich darin geübt, ihren Körper zu verlassen, von oben herab der Zerstückelung ihres Körpers durch imaginierte Opferungsgöttinnen zuzuschauen und wie diese ihr Fleisch und Blut dann allen Wesen zu opfern. Sie mögen deshalb zu einem solchen Opfer ihrer Organe, von großem Mitgefühl motiviert, fähig sein.

      Für andere aber kann die Szene der chirurgischen Organentnahme aus ihrem noch lebendigen und fühlenden Körper, der sie im Operationssaal beiwohnen, zu starken Gefühlen der Irritation, der Abwehr und des Ärgers führen. Negative Gefühle jedoch können leider im ­entscheidenden Augenblick des Todes und des Übergangs eine schlechte Wiedergeburt bewirken, so lehrt es das Totenbuch.

      Die wenigsten Menschen wissen, dass Organspender mit den stärksten Schmerzmitteln betäubt und auf dem OP-Tisch festgebunden werden müssen, weil sich ihr Körper immer wieder aufbäumt und gegen den Eingriff wehrt. Der Patient, dessen Hirntod festgestellt wurde, ist nicht tot, sondern stirbt erst durch die Organentnahme. Organe werden sehr teuer gehandelt, die Transplantationschirurgie ist äußerst lukrativ, und die Medikamente, die die immunologische Abstoßung der Spenderorgane unterdrücken sollen, kosten jährlich pro Patient ein Vermögen.

      Es gab auch immer wieder Patienten, bei denen »der Hirntod« festgestellt, aber keine Organe entnommen wurden, die nach adäquater Behandlung des verletzten Gehirns und Wochen oder Monaten der richtigen Pflege wieder aufwachten und völlig gesund wurden.

      Der Tod wird dem materialistischen Glaubenssystem entsprechend entweder positiv als Erlösung von allem Leid oder negativ als endgültige Auslöschung der eigenen Existenz gesehen, und beides ist falsch. Der Geist stirbt nicht, sondern nur der menschliche Körper, eine seiner vielen möglichen Formen. Er wird mit seinen Gedanken, Emotionen und Wünschen wieder Form annehmen, und deshalb wird sein Zustand beim Sterben als bestimmend für seine künftige Existenz gesehen.

      Wird Sterben als Katastrophe und der Tod als Feind des Lebens gesehen, der einem alles entreißt, was einem lieb und wert ist, so muss er unbedingt und um jeden Preis verhindert und hinausgeschoben werden. Das gebräuchliche Vokabular im Umgang mit Krankheit und Tod ist deshalb martialisch. Man muss gegen sie kämpfen und sie endgültig besiegen. Krankheit ist ein Fehler im System, den man beheben muss, der aber keinen Sinn hat, der einen etwas lehren könnte. Die Medizin suggeriert zunehmend, dass man schließlich alle Krankheiten heilen können wird, wenn nur die Freiheit der Forschung nicht mehr durch »ethische Grenzen« behindert wäre. Aber solange die Ursachen von Leid nicht durch innere Arbeit im Geist gereinigt sind, werden lediglich neue Krankheiten anstelle der alten erscheinen.

      Wir alle sind natürlich dankbar für eine gut funktionierende moderne Medizin, und wo sie noch dem ärztlichen Eid des Hippokrates folgt, wird sie auch die zu beachtenden heilsamen Grenzen, wie zum Beispiel das Tötungsverbot, achten. Es ist aber zu beobachten, dass in Folge der die akademische Ausbildung und die Wissenschaft seit Längerem dominierenden positivistischen und materialistischen Sichtweise die Neigung besteht, sich über ethische Bedenken hinwegzusetzen und alles zu machen, was man inzwischen machen kann. Hier sind bereits gravierende Fehlentwicklungen eingeleitet worden, und wir sollten deren Natur und die dahinterstehende Mentalität verstehen und ihnen rechtzeitig Einhalt gebieten, wo wir betroffen sind oder Gelegenheit dazu haben.

      Es ist erfreulich, dass nun auch vermehrt andere Stimmen in der Ärzteschaft laut werden, die die derzeit gängigen Sicht- und Verfahrensweisen im Medizinbetrieb offen infrage stellen und, etwa wie Dr. Giovanni Maio, die Grenzen der Machbarkeit und des Wachstums aufzeigend, für eine humane Medizin im Sinne des Hippokrates