Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens. Yungdrung Wangden Kreuzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yungdrung Wangden Kreuzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813464
Скачать книгу
wir den Geist oder Ungeist hinter einer bestimmten Ideologie erkennen und unterscheiden. Auch das ist Empirie. Wollen wir eine bessere Welt, so müssen wir als Erstes unheilsame, Leiden erzeugende Arten des Denkens als Fehler erkennen, sie durch heilsame Gedanken ersetzen und darauf verzichten, die Urheber solch fataler Denkrichtungen nachträglich noch zu feiern.

      Im Lankavatara-Sutra, einer buddhistischen Lehrschrift aus dem 3. Jahrhundert, heißt es, Mahamati, der Bodhisattva-Mahasattva, habe sich an den Buddha mit den Worten gewandt: »Du hast von den irrtümlichen Sichtweisen der Philosophen gesprochen; bitte erläutere uns diese und wie wir sie als solche erkennen können.«

      Der Buddha sprach daraufhin, der Irrtum in den Lehren dieser Philosophen liege darin, dass sie nicht erkennen, dass die objektive Welt aus dem Geist entsteht. Sie verstünden auch nicht, dass alle Bewusstseinszustände aus dem Geist entstehen. Ausgehend von der Annahme, dass diese Manifestationen des Geistes wirklich sind, führen sie damit fort, diese zu unterscheiden. Sie kategorisierten sie in dualistische Begriffe wie dieses und jenes, Sein und Nichtsein, und sie ignorierten dabei die Tatsache, dass es nur eine einzige, alles umfassende Essenz gibt. Seine (Buddhas) Lehre hingegen basiere auf der Erkenntnis, dass die objektive Welt wie eine Vision – eine Manifestation des eigenen Geistes – sei, und sie lehre, wie Unwissenheit, Begehren und Aversion beseitigt werden können und wie Ursache und Wirkung und alles Leid, das aus dem dualistischen Denken erwächst, ein Ende finden.

      Alle Konzepte, Bedeutungen, Namen und Merkmale sind relativ – sind Abstraktionen. Sie entstehen abhängig von dem, der sie formuliert, und drücken den Stand seiner Erkenntnis oder Nichterkenntnis aus. Werden sie in der Philosophie benutzt, um das Wesen der Wirklichkeit aufzuzeigen, so kann sowohl ihre Formulierung wie auch das Verstehen des Sinngehalts notwendigerweise nur der mehr oder weniger großen Auffassungsfähigkeit und Intelligenz, der individuellen Konditionierung und dem Charakter, dem Wissenshintergrund und der Bewusstseinsstufe sowie der persönlichen Auswahl der philosophierenden oder studierenden Person entsprechen.

      Hieraus ergibt sich, dass die genaueste und umfassendste Darstellung der Wahrheit oder Wirklichkeit nur vonseiten eines Wesens gegeben werden kann, das sich von den Schleiern des konzeptuellen Denkens und der Störgefühle bereits gereinigt hat, also von dem, was wir »einen Buddha« oder ein »völlig erwachtes Wesen« nennen. Die Buddhas haben die Ursachen des Leidens der Menschen und aller fühlenden Wesen und den Weg zu deren Beseitigung und zu dauerhaftem Glück klar erkannt und aufgezeigt, doch die meisten Menschen ziehen es vor, weiterzuträumen und sich ihr eigenes Weltbild auszudenken, wobei sie zumeist die gerade dominierenden Vorstellungen ihrer Gesellschaft spiegeln. Damit bleiben sie leider im dualistischen Denken befangen und üben sich nicht darin, dieses zu überschreiten. Doch ohne die Fähigkeit, das Denken zu überschreiten, kann man seine Funktionsweise und seine Wunder nicht verstehen. Man bleibt im Käfig der eigenen Begriffe gefangen.

      Was hier gemeint ist, kommt zum Ausdruck in dem enigmatischen Satz eines Zen-Meisters des 9. Jahrhunderts: »Wenn du verstehst, dass der Geist nicht Geist ist, verstehst du den Geist und seine Werke.«

      Das heißt, wenn wir die absolute, leere und klare Natur des Geistes in der Kontemplation, in der »Unio mystica«, »erfahren« haben, verstehen wir intuitiv auch die Wunder seiner Erscheinung. Wir verstehen dann die Lehre im Herzsutra: »Erscheinung ist Leerheit, und Leerheit ist Erscheinung.«

      Wenn wir den Begriff der »Luzidität« im Kontext einer konstruktivistischen Psychologie und Verhaltenstherapie verwenden, so steht er hier für einen Zustand gesteigerter Geistesklarheit, in dem wir nicht nur unserer Wahrnehmungen gewahr sind, sondern uns auch darüber klar sind, dass alle gedanklichen Vorstellungen, die wir über uns selbst als »den Wahrnehmenden« und über »unsere Wahrnehmungen« gebildet haben und bilden, nichts anderes sind als ebendas: unsere eigenen ­Vorstellungen und Interpretationen des Erlebten. Sich hierüber klar zu werden ist schon sehr viel, und aus dieser Erkenntnis entsteht sehr wahrscheinlich dann die Bereitschaft in uns, jede Vorstellung, die wir uns von uns selbst und von der Welt gemacht haben, systematisch infrage zu stellen, zum Beispiel indem wir häufig zu ergründen versuchen: »Wer ist sich dieses Traums gewahr?« Diese Fragestellung ist besonders effizient, um zu einer verlässlichen Luzidität zu kommen, denn mit dem ersten Teil des Satzes, also »Wer …?«, ziehen wir das »Ich« und jedes »Selbstbild« in Zweifel, und mit dem zweiten stellen wir die »objektive Wirklichkeit« der Welt infrage, indem wir affirmieren, dass all unser Erleben die Natur eines Traums hat. In Richtung auf die fiktionale Natur des menschlichen Denkens und Erkennens räsonierte ja auch die Erkenntnistheorie des Philosophen Kant und die von Descartes, und Letzterer ahnte in seinen Überlegungen zum sogenannten »Traumargument«, dass es in jeder Erlebnisform und Wahrnehmung im Schlafen und Wachen eigentlich unmöglich ist nachzuweisen, dass das Erlebte nicht ebenfalls Teil unseres Traumes ist.

      Leider verblieben beide schlussendlich in einer dualistischen Sichtweise, die letztlich nur das Subjektive diskreditierte und das Objektive als davon unabhängig existierend affirmierte. Descartes identifizierte sich so sehr mit seinem Denken, dass er sein Sein als davon abhängig definierte, indem er zu dem Schluss kam: »Ich denke, also bin ich.«

      Descartes wird mit Recht als Vorläufer der modernen Philosophie betrachtet. Wo der Geist nur philosophiert, aber nicht fähig ist, das eigene Denken zu »über-schreiten«, kann er die antinomische Natur des Denkens auch nicht transzendieren – und folglich die übergegensätzliche Natur des Geistes nicht realisieren.

      Die buddhistische Philosophie und Psychologie wuchs aus der direkten Beobachtung von Körper und Geist – aus einer unmittelbaren empirischen Beobachtung, die durch ein rigoroses Beiseitelassen von ­Konzepten vermeiden konnte, die Beobachtung mit den eigenen konzeptuellen Prämissen zu kontaminieren. Sie beschreibt das Wesen des »Geistes« oder des »Lebens« als die prinzipielle Untrennbarkeit von Gewahrsein und seinen Erscheinungen oder Erfahrungen, die nur scheinbar, eben wie in einem Traum, auseinandertreten, um das Spiel der Selbstwahrnehmung des Geistes überhaupt zu ermöglichen.

      Dem Buddha nach ist das Wesen des »Wahrnehmenden« und der »Dinge« an sich und in sich unerkennbar – aber was heißt das? Es ist unerkennbar, weil in Wirklichkeit das »allumfassende« große Ganze eins ist, weil das gesamte Universum ein einziger lebendiger Geist ist. Alles Erkennen vollzieht sich also innerhalb des Geistes und ist niemals wirklich von ihm getrennt, sondern nur in seiner eigenen Vorstellung.

      Wie gesagt: So wie wir luzide geworden sind im Traum, diesen als unseren eigenen Traum erkennen, so erkennen wir luzide geworden im Wachzustand den konzeptuellen Prozess der Vorstellung, der das fließende Erleben der meisten Menschen fast immer begleitet, als unsere eigene Vorstellung und Projektion. Luzide geworden, halten wir unseren eigenen Traum nicht mehr für eine von uns unabhängige Wirklichkeit, und ebenso halten wir die Vorstellungen, die wir von den »Dingen« haben, dann nicht mehr für eine objektive, von uns unabhängige, eigenständige Wirklichkeit.

      Es versteht sich wohl von selbst, dass diese Art durchschauender Luzidität und diese nichturteilende Achtsamkeit und Freiheit von Gedanken einer systematischen Geistesschulung und Einübung bedürfen, um schließlich zu einer gewissen Stabilität des Ruhens in einem Zustand reinen, luziden Gewahrseins gelangen zu können. Solange wir noch nicht völlige Freiheit von Gedanken erlangt haben, sind wir auch nicht völlig frei von möglicher Projektion und Übertragung.

      Eine einsichtsvolle Zurückhaltung in Bezug auf den Hochmut des Denkens, Benennens und Urteilens, wie sie aufleuchtet im Wort des Angelus Silesius: »Ich weiß nicht, was ich bin, und ich bin nicht, was ich weiß«, ist also immer angebracht. Stillesein, Rezeptivität, Einfühlungsvermögen, Nichturteilen und Zuhörenkönnen sind Qualitäten der klar erkennenden Natur des Geistes, die das Wesen der Dinge intuitiv und nonverbal unterscheiden und verstehen kann.