Und die stillen Schlösser sehen
In den Fluß vom hohen Stein?
»Das ist das Lied!« – rief Otto und eilte ganz verwirrt den Berg hinab. Unten aber sang es von neuem:
Kennst du noch die irren Lieder
Aus der alten, schönen Zeit?
Sie erwachen alle wieder
Nachts in Waldeseinsamkeit,
Wenn die Bäume träumend lauschen
Und der Flieder duftet schwül
Und im Fluß die Nixen rauschen
Komm herab, hier ist's so kühl.
Fortunat glaubte jetzt in dem Grunde, woher der Gesang kam, Kordelchen zwischen den mondbeglänzten Gebüschen zu erkennen. – Dann wurde auf einmal alles still, es war eine verlockende Nacht, das Wetter leuchtete von fern, und die wechselnden Schatten der Bäume schwankten verwirrend über den Steinen und Klüften.
Zehntes Kapitel
Fern von diesem Weltgetümmel, mitten zwischen den Waldbergen, lag in stiller Abgeschiedenheit ein altes Schloß mit wunderlichen, kleinen Fenstern, halbverfallenen Söllern und Türmchen, alles ganz verwildert und grün überwachsen. Zwischen den Tannenwipfeln qualmten die weißen Schornsteine des freundlichen Dorfes lustig herauf, sie schienen das Schloß schon lange einzuräuchern, denn es sah ganz braun aus, und zahllose Sperlinge lärmten und nisteten in dem Helm des steinernen Wappenschildes über dem Tor. Aus den alten Wallgräben war früher ein Garten und aus dem Garten mit der Zeit eine grüne Wildnis von Stachelbeeren und Haselnußsträuchern geworden, in der jetzt einige Ziegen ruhig weideten.
Dort saßen an einem schwülen Nachmittage mehrere Jagdhunde unter einer Weinlaube und unter ihnen der Gutsherr, Baron Eberstein, mit dem jungen Prediger des Orts schwatzend, der zum Besuch heraufgekommen war, um dem Baron seine neuen Meerschaumköpfe anrauchen zu helfen. Sie freuten sich beide des allmählich aufsteigenden Gewitters, denn die schillernden Täler unten lechzten nach Regen, es rührte sich kein Lüftchen in der ganzen Gegend, nur die Bienen summten um die hohen Sonnenblumen vor dem Schlosse. Seitwärts aber sah man bald einen roten Schuh, bald ein zierliches Füßchen aus dem Laube eines Kirschbaums schimmern, zwischen dem manchmal ein Paar schöne, dunkle Augen herausfunkelten. Es war Fräulein Gertrud, des Barons Tochter, die im Wipfel Kirschen naschte und die Kerne mutwillig nach den Hunden schnellte; eigentlich aber hatte sie's auf des Predigers neue, geschniegelte Weste abgesehen.
Der Prediger aber merkte nichts davon, so vertieft war er in den Diskurs. »Ja«, sagte er, »diese Gewitterschwüle ist ein bedeutungsvolles Bild der Gegenwart, alles liegt in banger Erwartung, daß man fast den leisen Schritt der Zeit hört, Gedankenblitze spielen auf dem dunklen Grunde.« – »Ah bah!« erwiderte der Baron, sich eine neue Pfeife stopfend, »Gewitter ist Gewitter, und dummes Zeug ist dummes Zeug!« – Der Prediger, ein wenig pikiert, rückte sich vornehm zurecht und sprach von der unaufhaltsamen Intelligenz, von der Mündigkeit der Zeit und der unsichtbaren Gewalt unverjährbarer Wahrheit. Da wurde der Baron ganz hitzig. »Was ist wahr? was ist wahr?« rief er dicht heranrückend aus. Dem Prediger, erschrocken und verblüfft wie er war, wollte gerade in diesem kritischen Moment keine passende Antwort einfallen. – »Na seht«, fuhr der Baron fort, »Ihr wißt's nicht, und ich weiß es auch nicht, das weiß der liebe Gott allein. Aber mein Jagdrevier hier das kenn' ich ganz genau, und wer mir in meine Wildbahn bricht, mündig oder unmündig, den schieß ich vor den Kopf, wie einen tollen Hund, und damit basta! Und wenn jeder so täte in seinem Revier, so hätten wir bald Ruhe vor der verjährten Intelligenz und der unsichtbaren Wahrheit und alle dem Plunder. Glaubt einem altgedienten Offizier, Prediger, die Zeit will nur Prügel haben, weiter ist's nichts!«
»Gäste kommen! Gäste kommen!« rief hier auf einmal das Fräulein vom Kirschbaum. Und in der Tat, kein Schiffer vom Mastkorb blickt so scharf in die Ferne als ein Landfräulein in der Meeresstille ihrer einförmigen Einsamkeit, denn kaum noch schimmert' es flüchtig von dem Gipfel des gegenüberliegenden Berges herüber. Das Gewitter lag schwer über dem Berge und verdunkelte schon die ganze Gegend, nur der grüne Abhang nach dem Schlosse zu war von der Abendsonne noch hell beschienen. Da sah man auf einmal Federbüsche aus dem Grün nicken, einzelne Reiter flogen über den Plan, immer mehre folgten, Jäger und Frauengestalten auf zierlichen Zeltern, wie wenn der Herbstwind farbige Blätter verstreut; der eine der Reiter schien eine Gitarre im Arm zu haben; man hörte seine Stimme durch die stille Luft bis herüber schallen, andere bliesen auf dem Waldhorn dazu und schossen ihre Flinten ab; so bewegte sich der bunte Zug in der wunderbaren Beleuchtung heiter und eilig den Abhang hinunter – das Fräulein konnte sich nicht satt sehn daran.
»Wahrhaftig, Seine Durchlaucht mit Ihrer ganzen Literatur!« rief der erstaunte Baron aus, indem er die Pfeife schnell weglegte. »Jetzt biegen sie in den Hohlweg, es kommt alles hierher. He, Johann! meinen Hut, meine Uniform! Was das lateinische Reiter sind! Wo bleibt der Schlingel! Das wollen Jäger sein, die Juanna, das Blitzmädel, ist noch der beste Schütz unter ihnen.« – »Sie soll immer mitten ins Herz treffen«, versetzte der ästhetische Prediger. – »Prediger!« sagte der Baron, ihn bei der Hand festhaltend, »ich bitt' Euch um Gottes willen, lauft mir jetzt nicht davon, Ihr müßt gelehrt sprechen mit den Leuten, mir ist's immer wie Chaldäisch im Halse unter ihnen.« – »Nun, nun, wir wollen schon machen«, erwiderte der Prediger, zufrieden schmunzelnd.
Fräulein Trudchen aber war schon wie ein Reh über Wallgraben und Sträucher nach dem Schlosse gesprungen. Da gab's ein wahres Volksfest, die Türen flogen krachend auf und zu, die Hunde bellten, die alten Sofas und Stühle wurden ausgeklopft, daß es rauchte, zuweilen hörte man das lustige Lachen des Fräuleins dazwischen. Zuletzt band sie nur noch schnell ihre neue Schürze um; sie wußt' es wohl, sie war hübsch genug, so wie sie war.
Nun aber begann auch schon draußen der Lärm. In hastiger Flucht brachen Gewitter und Gäste zusammen herein; der kleine Hof füllte sich plötzlich mit Glanz und Getümmel von eleganten Uniformen, Reitern und Rossen, der Regen fiel schon in einzelnen großen Tropfen, Tücher, Mäntel und Schleier flatterten im Sturm durcheinander, und bunte Jockeis flogen von den Pferden, um in der Verwirrung den Herrschaften herabzuhelfen, während die Mägde und Knechte des Barons, ihre Mützen in der Hand, ganz verwirrt in den Türen standen. Der Fürst war der erste, der sich aus dem Knäul herauswickelte. Er befahl seinen Leuten, mit Pferden und Hunden im Dorf ein Unterkommen zu suchen, so gut es gehe; dann entschuldigte er verbindlich beim Baron den plötzlichen Überfall, das Unwetter habe sie überrascht; er bat um Schutz für die Nacht; wo könne er diesen besser finden, setzte er hinzu, als bei den alten Häusern des Landes. – »Alt und wackelig in der Tat«, sagte die Fürstin leise zu ihrem Nachbar, das Schloß bedenklich betrachtend. – »Es sieht aus«, erwiderte dieser, »wie ein altes Rolandsbild, dem der Zahn der Zeit den Kopf abgebissen.« – »Nein, wie ein einzeln stehengebliebener Backzahn der Zeit selbst«, meinte ein anderer. – Der Baron aber, in dem beim Anblick von Damen jederzeit die Ritterlichkeit seines ehemaligen Offizierlebens wieder erwachte, hatte mit scharfem Jägerblick sogleich die Fürstin aufs Korn genommen. Er half ihr kunstgerecht aus dem Sattel, bot ihr mit altmodischer Galanterie den Arm und führte sie über den Hof, immerfort französisch mit ihr sprechend, obgleich sie ihm deutsch antwortete. Aber schon am Eingange gab es unerhofften Aufenthalt. Die fürstlichen Jagdhunde schnupperten überall vornehm umher, da gebrauchten die Hunde des Barons ihr Hausrecht, und eh' man sich's versah, gerade in der Türe entstand plötzlich ein Balgen und Würgen, daß die Haare davonflogen. Mit gewaltiger Stimme, mit Stock und Stiefeln stiftete der Baron endlich wieder Frieden, und wandte sich dann entschuldigend zur Fürstin. Die Fürstin aber kam darüber in ein unaufhaltsames Lachen, das steckte die andern mit an, und so zog alles fröhlich ein.
Dieser konfuse Anfang hatte die ganze Feierlichkeit verstört, welche der Baron im Schilde führte. Er brachte die Gesellschaft in ein großes Zimmer, das nicht zum gewöhnlichen Gebrauche bestimmt schien, wie man an der verstaubten Pracht der damastenen Gardinen abnehmen konnte. Anstatt