Der Defizit-Mythos. Stephanie Kelton. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephanie Kelton
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783944203614
Скачать книгу
keine Punkte auf einer Punktekarte vermerkt werden, sondern die Zahlungen einfach von jemandem bei der Federal Reserve in eine Tastatur eingetippt werden. Lassen Sie mich das erklären.

      Nehmen wir zum Beispiel Militärausgaben. 2019 verabschiedeten das Repräsentantenhaus und der Senat ein Gesetz zur Aufstockung des Militärhaushalts und genehmigten 716 Mrd. US-Dollar, beinahe 80 Mrd. mehr, als der Kongress im Steuerjahr 2018 bewilligt hatte.15 Wie die Ausgaben finanziert werden sollten, stand überhaupt nicht zur Debatte. Niemand fragte, Woher sollen wir die zusätzlichen 80 Mrd. Dollar nehmen? Weder erhöhten die Gesetzgeber die Steuern, noch nahmen sie bei Sparern Darlehen über weitere 80 Mrd. Dollar auf, damit die Regierung die zusätzlichen Zahlungen leisten konnte. Stattdessen verpflichtete sich der Kongress dazu, Geld auszugeben, das er nicht besaß. Dank seiner besonderen Macht über den US-Dollar kann er das. Wenn der Kongress die Ausgaben bewilligt, erhalten mittelbewirtschaftende Stellen wie das Verteidigungsministerium die Genehmigung, Verträge mit Unternehmen wie Boeing, Lockheed Martin und anderen abzuschließen. Um sich mit F-35-Kampfjets zu versorgen, weist das US-Finanzamt seine Bank, die Federal Reserve, an, die Zahlung für sie zu leisten. Die Fed tut dies, indem sie die Zahlen auf Lockheeds Bankkonto erhöht. Der Kongress muss kein „Geld auftreiben“, um es ausgeben zu können. Er muss Stimmen auftreiben! Sobald er die nötigen Stimmen hat, kann er die Ausgaben bewilligen. Der Rest ist lediglich Buchhaltung. Wenn die Schecks abgeschickt werden, verrechnet die Federal Reserve die Zahlungen, indem sie dem Bankkonto des Verkäufers den entsprechenden Betrag an digitalen Dollars, Bankreserven genannt, gutschreibt.16 Das ist der Grund, warum die MMT die Fed manchmal als den Punkteverwalter des Dollar bezeichnet. Dem Punkteverwalter können nie die Punkte ausgehen.

      Überlegen Sie einmal, woher die Punkte kommen, wenn Sie Karten spielen oder zu einem Basketball-Spiel gehen. Sie kommen nirgendwo her! Sie werden einfach von der Person ins Leben gerufen, die sie aufschreibt. Wenn einem Basketballspieler ein Wurf von der Drei-Punkte-Linie aus glückt, werden der Mannschaft drei Punkte gutgeschrieben. Greift der Anschreiber in einen Eimer und holt die drei Punkte dort heraus? Natürlich nicht! Tatsächlich hat der Anschreiber gar keine Punkte. Um den Dreipunkte-Wurf zu verzeichnen, erhöht der Anschreiber lediglich die Zahl, die dann auf der Anzeigetafel aufleuchtet. Nehmen wir jetzt einmal an, dass das Spiel überprüft wird und der Schiedsrichter entscheidet, dass die Wurfuhr abgelaufen war. Die Punkte werden abgezogen. Beachten Sie jedoch, dass das Stadion gar nichts zurücknimmt. Es werden einfach Punkte addiert und subtrahiert, so wie die Bundesregierung der Wirtschaft Dollars hinzufügt oder entzieht, wenn sie Ausgaben tätigt und Steuern einnimmt. Uncle Sam verliert keine Dollars, wenn er welche ausgibt, und er bekommt keine Dollars, wenn er Steuern erhebt. Deshalb widersprach der ehemalige Vorsitzende der Fed, Ben Bernanke, der Behauptung, dass die Dollars der Steuerzahler für die Rettung der Banken nach der Finanzkrise verwendet würden. „Die Banken haben Konten bei der Fed,“ erklärte er. „Wir benutzen nur den Computer, um die Kontostände zu erhöhen.“ Nicht die Steuerzahler retteten die Wall Street. Es war der Anschreiber.

      Bernankes Bemerkung erinnert vielleicht einige von Ihnen an die beliebte Fernsehsendung Whose Line Is It Anyway? Der Moderator, Drew Carey, eröffnete jede Folge mit dem Spruch, „Eine Sendung, in der alles frei erfunden ist und die Punkte keine Rolle spielen.“ Es war Improvisationscomedy, so dass wirklich alles frei erfunden war. Im Verlauf der Show verlieh Carey imaginäre Punkte, je nachdem, wie lustig er und das Publikum die anderen Komiker fanden. Mit den Punkten konnte niemand etwas anfangen, so dass sie wirklich keine Rolle spielten. Die Punkte der Regierung jedoch spielen durchaus eine Rolle.

      Zunächst einmal brauchen Sie und ich Dollars, um unsere Steuern zu bezahlen. Und weil Steuern (und der Tod) zum Leben einfach dazugehören, nimmt die Währung der Regierung eine zentrale Stellung in unserem Wirtschaftsleben ein. Nach Einführung einer durch Steuereinnahmen gedeckten Währung, wie es der US-Dollar ist, wird diese üblicherweise als Standardeinheit benutzt, um alles andere zu bewerten. Betreten Sie ein beliebiges Restaurant oder Einkaufszentrum in den Vereinigten Staaten, und Sie werden mit Sicherheit einen Verkäufer finden, der Dollars verdienen möchte. Betreten Sie ein Gerichtsgebäude, und Sie werden einen Richter vorfinden, der Schadensersatz in US-Dollar gewährt. Loggen Sie sich in Ihren Computer ein, um eine Pizza zu bestellen, und Sie müssen mit Dollars zahlen. Wir brauchen Dollars, und wir können sie nur an einem einzigen Ort bekommen, und zwar vom Währungsemittenten. Die Pizzeria und das Kaufhaus brauchen auch Dollars, denn schließlich müssen sie ebenfalls Steuern zahlen. Selbst Bundesstaaten und Lokalverwaltungen sind auf Dollars angewiesen, weil sie die Lehrer, Richterinnen, Feuerwehrleute und Polizeibeamtinnen bezahlen müssen, die alle in Dollars entlohnt werden wollen. Nur der Anschreiber ist anders. Uncle Sam braucht keine Dollars. Wenn er Steuern von uns erhebt, nimmt er uns lediglich ein paar Dollars weg. In Wirklichkeit bekommt er gar keine Dollars.

      Es ist irritierend, ich weiß. Das ist unser erster Kopernikus-Moment. Es ist der Grund, warum ein Journalist der Financial Times die MMT als Autostereogramm bezeichnet hat.17 Sie wissen schon, eines dieser zweidimensionalen Bilder, die ziemlich unscheinbar aussehen, bis man den Blick auf eine bestimmte Art einstellt, sodass auf einmal das Bild hinter dem Bild sichtbar wird und eine kunstvolle Wüstenlandschaft oder ein Weißer Hai in 3-D erscheinen. Erkennt man erst einmal, dass im Mittelpunkt der Fähigkeit der Regierung, Ausgaben zu tätigen, nicht der Dollar des Steuerzahlers steht, dann verlagert sich das gesamte Steuer-Paradigma. Oder, wie es der Journalist ausdrückte, „Hat man es erst einmal kapiert, dann sieht man die Dinge nie mehr ganz so wie früher.“

      WOZU DIE MÜHE MIT STEUERN UND DARLEHEN?

      Wenn die Bundesregierung wirklich einfach so viele Dollars herstellen kann, wie sie nur möchte, warum macht sie sich dann überhaupt die Mühe mit Besteuerung und Darlehen? Warum schafft sie Steuern nicht gänzlich ab? Das Volk würde jubeln! Und wozu sich einen Dollar leihen, wenn man es gar nicht nötig hat? Wir könnten die Staatsschuld tilgen, wenn wir keine Darlehen mehr aufnähmen. Warum ersparen wir uns also nicht das ganze (TAB) und geben das Geld nur dazu aus, um unsere Probleme zu lösen? Das sind wichtige Fragen, die oft gestellt werden, wenn jemand erkennt, dass währungsemittierende Regierungen für ihre Ausgaben nicht auf Steuern oder Darlehen angewiesen sind.

      2018 rief ein dreizehnjähriges Mädchen namens Amy aus Bristol in England bei den Moderatoren eines beliebten Podcast namens Planet Money mit folgendem Vorschlag an:

      AMY: Ich hatte da eine Idee: Die drucken doch Geld, und statt es der Bank zu geben und die Inflation in die Höhe zu treiben, könnten sie es doch einfach für die öffentlichen Dienstleistungen benutzen. Und so wäre es viel einfacher. Und es wäre insgesamt echt gut, weil es doch so schwierig ist mit, also, weil doch die Steuern nicht für alle Schulen und Krankenhäuser reichen. Drum hab’ ich gedacht, vielleicht könnte das helfen. Also, danke fürs Zuhören. Okay, danke. Tschüss.

      Kindermund tut Wahrheit kund, heißt es. Amy erkennt Probleme, die gelöst werden müssen. Unterfinanzierte Schulen und ein staatlicher Gesundheitsdienst, der dringend mehr Investitionen braucht. Sie hat auch miterlebt, wie die Bank of England ihre digitale Druckerpresse angekurbelt hat, um aus dem Nichts 435 Mrd. Pfund zu produzieren, als Teil ihres quantitativen Lockerungsprogramms nach der Finanzkrise. Für Amy liegt die Lösung auf der Hand – vergesst die Steuern und lasst die Druckerpresse nur für das Volk laufen!

      Das Interesse der Podcast-Moderatoren war geweckt, und sie kontaktierten mich mit der folgenden Frage: Die Regierung kann Geld schaffen. Wozu sind dann Steuern gut? Warum muss mir die Regierung das Geld mit Steuern wegnehmen?18

      Ich erklärte den Leuten von Planet Money, dass es für die MMT mindestens vier wichtige Gründe für Besteuerung gibt.19 Den ersten haben wir bereits besprochen. Durch Steuern kann sich die Regierung versorgen, ohne explizit Gewalt anwenden zu müssen. Wenn die britische Regierung von ihrer Bevölkerung nicht mehr verlangen würde, ihre steuerlichen Verpflichtungen mit britischen Pfund zu begleichen, dann könnte sie sich ziemlich bald nicht mehr versorgen. Weniger Menschen müssten Pfund verdienen, und für die Regierung würde es immer schwieriger, Lehrer, Krankenschwestern und so weiter zu finden, die bereit wären, im Austausch gegen die Währung zu arbeiten und Dinge zu produzieren.

      Amy