Der Defizit-Mythos. Stephanie Kelton. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephanie Kelton
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783944203614
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glauben, dass die Regierung genau wie wir erst „das Geld aufbringen muss“, bevor sie es ausgeben kann, sind alle von der Frage besessen: Wie sollen wir das bezahlen? Man hat uns beigebracht, von unseren gewählten Politikern zu erwarten, dass sie uns einen Plan vorlegen, der genau zeigt, woher sie jeden neuen Dollar nehmen werden, den sie ausgeben wollen. Selbst die progressivsten Kandidaten fürchten, dass man ihnen den Kopf abreißt, wenn ihre Vorschläge das Defizit erhöhen, weshalb Darlehen fast nie in Frage kommen. Um zu beweisen, dass ihre Maßnahmen das Defizit nicht erhöhen werden, überlegen sie, wie sie mehr Steuererträge aus der Wirtschaft herauspressen können und zielen dabei normalerweise auf diejenigen ab, die es sich am ehesten leisten können, mehr zu zahlen. Beispielsweise behauptet Senator Bernie Sanders, dass eine Transaktionssteuer staatliche Schulen und Universitäten von Studiengebühren befreien wird, und Senatorin Elizabeth Warren versichert, dass eine 2-prozentige Steuer auf Vermögen über 50 Millionen US-Dollar ausreichen würde, um 95 Prozent der Studenten die Schuldenlast ihrer Studiengebühren abzunehmen und zusätzlich Kinderbetreuung und kostenlose Universitäten zu finanzieren. In beiden Fällen soll bewiesen werden, dass sich durch die Besteuerung der Reichsten Amerikas alles bezahlen lässt. Wie wir auf den nächsten Seiten sehen werden, können neue Programme oft finanziert werden, ohne die Steuern erhöhen zu müssen. Die Erhöhung des Defizits sollte kein Tabu sein. Steuern sind von entscheidender Bedeutung, doch besteht kein Grund zur Annahme, die Regierung müsse vor jeder Investition in unsere Wirtschaft zuerst die Steuern anheben.

      In der Praxis nimmt die Bundesregierung fast nie ausreichend Steuern ein, um all ihre Ausgaben auszugleichen. Defizitausgaben sind die Norm, und alle in Washington, D.C. wissen das. Und auch die Wähler wissen es. Deshalb schimpfen so viele Politiker, dass der Kongress seinen Haushalt in Ordnung bringen solle, bevor es zu spät sei. Um ihr Engagement für die gute alte Haushaltsführung zu beweisen, führten die Demokraten unter Leitung der Sprecherin Nancy Pelosi (D-CA) 2018 die Umlagenfinanzierung (PAYGO) wieder ein. Unter PAYGO sind Darlehen zur Finanzierung neuer Ausgaben eigentlich verboten. So wird (TAB)S auf Besteuerung und Ausgaben (T)S reduziert, weshalb die Gesetzgeber unter enormem Druck stehen, neue Ausgaben durch Einnahmen aus neuen Steuern abzudecken.7

      Ist das eine gute politische Strategie? Ist es gute Ökonomie? Auf jeden Fall klingt es nach einer vernünftigen Haushaltsmethode. Sie wurzelt jedoch in falschen Vorstellungen dazu, wie die Regierung tatsächlich Geld ausgibt. In Wirklichkeit ist es nämlich genau umgekehrt.

      WIE DER WÄHRUNGSEMITTENT GELD AUSGIBT: S(TAB)

      Weil es die vorherrschende Denkart ist, stellen sich die meisten von uns vermutlich eine Version des (TAB)S-Modells vor. Selbst dann, wenn wir uns nie mit den inneren Abläufen des Staatshaushalts auseinandergesetzt haben, glauben wir wahrscheinlich, dass der Staat auf unser Geld angewiesen ist, um seine Rechnungen bezahlen zu können. Vielleicht empfinden wir sogar einen gewissen Patriotismus, wenn wir jedes Jahr im April einen Scheck an die US-Finanzbehörde schicken, und sind stolz darauf, dass wir ein wenig dazu beigetragen haben, dass Sozialwohnungen gebaut, unsere Männer und Frauen in Uniform bezahlt und unsere Landwirte großzügig subventioniert werden. Leider habe ich jedoch schlechte Nachrichten für Sie, denn tatsächlich verhält es sich völlig anders. Falls Sie nicht bereits sitzen, sollten Sie das jetzt tun. Sind Sie bereit? Mit Ihren Steuern wird überhaupt nichts bezahlt, zumindest nicht auf Bundesebene. Die Regierung braucht unser Geld nicht. Wir brauchen ihr Geld. Wir sehen das Ganze völlig verkehrt!

      Als ich dieser Darstellung der Funktionsweise von Steuern und Ausgaben zum ersten Mal begegnete, schreckte ich zurück. Es war 1997, und ich steckte mitten in einem PhD-Programm für Wirtschaft, als mir jemand ein kleines Buch mit dem Titel Soft Currency Economics zukommen ließ.8 Der Autor des Buches, Warren Mosler, war ein erfolgreicher Wall-Street-Investor, kein Ökonom, und in seinem Buch ging es darum, wie die Wirtschaftswissenschaft beinahe alles falsch verstand. Ich las es und war nicht überzeugt.

      Mosler zufolge tätigt die Regierung zuerst Ausgaben und erhebt dann Steuern oder nimmt Darlehen auf. Diese Reihenfolge kehrt Thatchers Diktum komplett um und bringt die Gedächtnisstütze in eine neue Reihenfolge: S(TAB) – Ausgaben vor Steuern und Darlehen. Moslers Argumentation zufolge kommt es der Regierung gar nicht darauf an, dass Andere die TAB übernehmen, sie bringt ihre Währung einfach durch Ausgaben in Umlauf. Warren erkannte Dinge, die den meisten Ökonomen entgingen. Viele von uns hielten seine Ideen anfangs für völlig neuartig, doch die meisten davon waren es gar nicht. Sie waren nur uns neu. Tatsächlich finden sie sich in kanonischen Texten wie Adam Smiths Wohlstand der Nationen oder in John Maynard Keynes’ zweibändigem Klassiker, Vom Gelde (wo wir sie dann auch jeweils fanden). Schon vor langer Zeit waren Anthropologen, Soziologen, Philosophen und Andere zu ähnlichen Schlussfolgerungen zur Natur des Geldes und der Rolle von Steuern gekommen, doch die Ökonomie hinkte großteils hinterher.

      Mosler gilt als Vater der MMT, weil er diese Ideen in den 1990er Jahren einigen von uns nahebrachte. Er sagt, er wisse nicht, wie er zu dieser Auffassung von Steuern und Staatsausgaben gelangt war, dass er jedoch nach jahrelanger Arbeitserfahrung auf den Finanzmärkten einfach darauf kam. Er war daran gewöhnt, in Soll und Haben zu denken, weil er mit Finanzinstrumenten gehandelt und zugesehen hatte, wie Geld zwischen Bankkonten hin und her überwiesen wurde. Eines Tages begann er, zu überlegen, wo all diese Dollars wohl ursprünglich herkamen. Er kam auf den Gedanken, dass die Regierung zuerst Dollars hinzufügen (gutschreiben) musste, bevor sie sie von uns abziehen (abbuchen) konnte. Also folgerte er, dass die Ausgaben zuerst dagewesen sein mussten, denn woher hätten wir sonst die für Steuerzahlungen benötigten Dollars bekommen? Auch wenn die Logik unfehlbar wirkte, war ich überzeugt, dass an der Geschichte etwas falsch sein musste. Wie auch nicht? Sie stellte mein gesamtes Wissen zu Geld, Steuern und Staatsausgaben auf den Kopf. Ich hatte bei weltbekannten Ökonomen an der Universität Cambridge Wirtschaftswissenschaften studiert und von keinem meiner Professoren jemals so etwas gehört. Tatsächlich deckten sich alle Modelle, die sie mich gelehrt hatten, mit Thatchers Diktum, dass Regierungen zuerst Steuern erheben oder Darlehen aufnehmen müssen, bevor sie Ausgaben tätigen können.9 Konnte es wirklich sein, dass fast alle unrecht hatten? Ich musste es herausfinden.

      1998 besuchte ich Mosler in seinem Haus in West Palm Beach in Florida, wo ich stundenlang seinen Ausführungen zuhörte. Als erstes bezeichnete er den US-Dollar als „ein simples öffentliches Monopol“. Da die US-Regierung die einzige Quelle für Dollars ist, war es Unfug, zu glauben, dass Uncle Sam von uns anderen Dollars bekommen musste. Selbstverständlich konnte der Emittent des Dollar so viele Dollars haben, wie er nur wollte. „Die Regierung will keine Dollars“, erklärte Mosler. „Sie will etwas Anderes.“

      „Was will sie denn?“, fragte ich.

      „Sie will sich versorgen”, antwortete er. „Die Steuern sind nicht dazu da, um Geld zu beschaffen. Sie sind dazu da, damit die Menschen arbeiten und Dinge für die Regierung herstellen.“

      „Was für Dinge?“, fragte ich.

      „Ein Militär, ein Gerichtssystem, öffentliche Parks, Krankenhäuser, Straßen, Brücken. Solche Dinge eben.“

      Damit die Bevölkerung all diese Arbeit leistet, erlegt ihr die Regierung Steuern, Gebühren, Strafzahlungen oder andere Verbindlichkeiten auf. Die Steuern sind dazu da, um eine Nachfrage nach der Währung der Regierung zu schaffen. Bevor Steuern bezahlt werden können, muss Arbeit verrichtet werden, um die Währung zu verdienen.

      Mein Kopf drehte sich. Dann erzählte er mir eine Geschichte.

      Mosler besaß ein wunderschönes Haus am Strand mit Swimmingpool und allem erdenklichen Luxus. Er hatte auch eine Familie, zu der zwei Kinder gehörten. Zur Veranschaulichung seines Arguments erzählte er mir, dass er sich einmal mit seinen zwei Kindern hingesetzt und ihnen erklärt habe, dass sie ihren Teil dazu beitragen mussten, um das Haus sauber und wohnlich zu halten. Er wollte, dass der Rasen gemäht, die Betten gemacht, das Geschirr gewaschen und die Autos geputzt wurden, und so weiter. Um sie für ihre Zeit zu entlohnen, bot er ihnen an, sie für ihre Arbeit zu bezahlen. Drei seiner Visitenkarten, wenn sie ihre Betten machten. Fünf fürs Geschirrwaschen. Zehn für ein geputztes Auto und fünfundzwanzig für Gartenarbeit. Aus Tagen wurden Wochen, und das Haus