Der Defizit-Mythos. Stephanie Kelton. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephanie Kelton
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783944203614
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anderen hingegen schon. Uncle Sam kann nicht vor einem wachsenden Schuldenberg stehen, den er nicht bezahlen kann. Wir anderen vielleicht schon. Uncle Sam wird nie pleite gehen. Wir anderen unter Umständen schon. Wenn Regierungen versuchen, ihre Budgets wie Haushalte zu verwalten, entgeht ihnen die Gelegenheit, die Macht ihrer souveränen Währungen zu nutzen, um das Leben ihrer Bevölkerung erheblich zu verbessern. Wir werden zeigen, wie die MMT beweist, dass die Bundesregierung zur Finanzierung ihrer Ausgaben nicht auf Steuereinnahmen oder Darlehen angewiesen ist, und dass Inflation der Hauptgrund für die Beschränkung von Staatsausgaben ist.

      Der zweite Mythos ist, Defizite seien ein Beweis für Budgetüberschreitungen. Das ist ein naheliegender Schluss, denn wir alle haben gehört, wie sich Politiker über Defizite beklagen, die beweisen, dass die Regierung „über ihre Verhältnisse“ lebt. Das ist ein Irrtum. Es stimmt, dass in den Büchern der Regierung jedes Mal ein Defizit aufscheint, wenn sie mehr ausgibt als sie an Steuern einnimmt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die MMT vervollständigt das Bild durch einfache buchhalterische Logik. Angenommen, die Regierung gibt 100 US-Dollar für die Wirtschaft aus, nimmt jedoch nur 90 US-Dollar an Steuern ein. Die Differenz wird als Staatsdefizit bezeichnet. Doch man kann diese Differenz auch anders betrachten. Uncle Sams Defizit verschafft jemand anderem einen Überschuss. Das liegt daran, dass das Minus der Regierung von 10 Dollar stets irgendwo anders in der Wirtschaft durch ein Plus von 10 Dollar ausgeglichen wird. Das Problem ist, dass die Politiker das Bild nur von einer Seite betrachten. Sie sehen das Haushaltsdefizit, doch entgeht ihnen der entsprechende Überschuss auf der anderen Seite. Und da er vielen Amerikanern ebenfalls entgeht, begrüßen sie die Bemühungen um einen ausgeglichenen Haushalt, selbst wenn ihnen dadurch Geld aus den Taschen gezogen wird. Die Regierung kann zu viel ausgeben. Defizite können zu hoch sein. Doch der Beweis für Budgetüberschreitungen ist Inflation, und Defizite sind meist zu niedrig, nicht zu hoch.

      Der dritte Mythos ist, dass Defizite der nächsten Generation zur Last werden. Nur allzu gern kramen Politiker diesen Mythos hervor und verkünden, dass wir durch Defizite das Leben unserer Kinder und Kindeskinder ruinieren und ihnen erdrückende Schulden aufbürden, die sie eines Tages abbezahlen müssen. Einer der einflussreichsten Verbreiter dieses Mythos was Ronald Reagan. Doch sogar Senator Bernie Sanders machte sich zu Reagans Sprachrohr, als er sagte, „Ich mache mir Sorgen wegen der Schulden. Das ist nichts, was wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen sollten.“8

      Das ist zwar rhetorisch überzeugend, entbehrt jedoch jeder ökonomischen Logik. Den Beweis dazu liefert die Geschichte. Als Teil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreichte die Staatsverschuldung ihren Höchststand – 120 Prozent – unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Und doch entstand auch genau zur selben Zeit die Mittelschicht, das durchschnittliche Familieneinkommen stieg sprunghaft an, und die darauffolgende Generation genoss einen höheren Lebensstandard ohne die zusätzliche Last höherer Steuersätze. Die Realität ist, dass Staatsdefizite der Bevölkerung der Zukunft keine finanziellen Bürden auferlegen. Die Erhöhung von Defiziten macht zukünftige Generationen nicht ärmer, und der Abbau von Defiziten wird sie nicht reicher machen.

      Der vierte Mythos, mit dem wir uns befassen werden, ist die Vorstellung, dass Defizite schädlich sind, weil sie private Investitionen verdrängen und langfristiges Wachstum untergraben. Dieser Mythos wird meistens von Mainstream-Ökonomen und politischen Eiferern verbreitet, die es eigentlich besser wissen sollten. Er beruht auf der fälschlichen Annahme, die Regierung müsse zur Finanzierung ihrer Defizite mit anderen Kreditnehmern um den Zugang zu einem begrenzten Vorrat von Ersparnissen konkurrieren. Die Idee hierbei ist, dass Staatsdefizite einen Teil der Dollars verbrauchen, die der private Sektor sonst in die Förderung langfristigen Wohlstands investiert hätte. Wir werden sehen, warum das Gegenteil der Fall ist – tatsächlich steigern Haushaltsdefizite private Ersparnisse – und private Investitionen leicht mit einbezogen werden können.

      Der fünfte Mythos ist, dass Defizite die Vereinigten Staaten von Fremden abhängig machen. Dieser Mythos will uns weismachen, dass Länder wie China und Japan enorme Kontrolle über uns haben, weil sie im Besitz großer Mengen der US-Verschuldung sind. Wir werden sehen, dass dies eine Fiktion ist, die bewusst oder unbewusst von Politikern verbreitet wird, oft als Vorwand, um Sozialprogramme zu ignorieren, die dringend finanziert werden müssten. Manchmal bemüht dieser Mythos die Metapher vom verantwortungslosen Umgang mit einer ausländischen Kreditkarte. Dabei wird nicht beachtet, dass die Dollars nicht aus China stammen. Sie kommen aus den Vereinigten Staaten. Wir nehmen keinen Kredit in China auf, sondern versorgen China mit Dollars und gestatten ihnen, diese Dollars gegen sichere, verzinsliche US-Staatsanleihen einzutauschen. Nichts daran ist in irgendeiner Weise riskant oder schädlich. Wenn wir wollten, könnten wir die Verschuldung mit einem simplen Tastendruck augenblicklich tilgen. Die Verpfändung unserer Zukunft ist ein weiteres Beispiel dafür, wie das wahre Prinzip souveräner Währungen missverstanden – oder für politische Zwecke absichtlich fehlgedeutet – wird.

      Der sechste Mythos, mit dem wir uns beschäftigen werden, ist, dass uns Leistungsansprüche in eine langfristige Finanzkrise treiben. Die Schuldigen sind angeblich Sozialversicherung, Medicare und Medicaid. Ich werde Ihnen zeigen, warum diese Denkweise falsch ist. Es gibt einfach keinen guten Grund, beispielsweise bei der Sozialversicherung Kürzungen vorzunehmen. Unsere Regierung wird zukünftige Ansprüche stets erfüllen können, da ihr nie das Geld ausgehen kann. Anstatt über die monetären Kosten zu streiten, sollten die Gesetzgeber darüber diskutieren, wessen Politik den Bedürfnissen unserer gesamten Bevölkerung am besten nachkommt. Das Geld dafür ist immer da. Die Frage ist, was man für dieses Geld bekommt. Demographien im Wandel und die Auswirkungen des Klimawandels sind echte Herausforderungen, die verfügbare Ressourcen belasten könnten. Wir müssen sicherstellen, dass wir alles Menschmögliche für die Verwaltung unserer realen Mittel und die Entwicklung nachhaltigerer Produktionsverfahren tun, während die Generation der Baby-Boomer aus der arbeitenden Bevölkerung ausscheidet. Doch wenn es um das Auszahlen von Leistungen geht, können wir es uns stets leisten, unseren Versprechen den jetzigen Rentnern und den späteren Generationen gegenüber nachzukommen.

      Nach vollständiger Untersuchung der Denkfehler, die diesen sechs Mythen zugrunde liegen, und deren Widerlegung durch solide Fakten, werden wir uns mit den wirklich wichtigen Defiziten befassen. Die realen Krisen, denen wir gegenüberstehen, haben nichts mit Staatsdefizit oder Leistungsansprüchen zu tun. Die Tatsache, dass 21 Prozent aller Kinder der Vereinigten Staaten in Armut leben – das ist eine Krise. Die Tatsache, dass unsere Infrastruktur mit der Note D+ bewertet wird, ist eine Krise. Die Tatsache, dass die Ungleichheit wieder denselben Stand wie Ende des 19. Jahrhunderts erreicht hat, ist eine Krise. Die Tatsache, dass der durchschnittliche amerikanische Arbeitnehmer seit den 1970er Jahren praktisch kein reales Lohnwachstum mehr erlebt hat, ist eine Krise. Die Tatsache, dass vierundvierzig Millionen Amerikaner mit 1,7 Billionen US-Dollar an Studienkrediten verschuldet sind, ist eine Krise. Und die Tatsache, dass wir uns letztlich überhaupt nichts „leisten“ können werden, wenn wir den Klimawandel weiter beschleunigen und das Leben auf diesem Planeten zerstören, ist wahrscheinlich die schlimmste aller Krisen.

      Das sind echte Krisen. Das Staatsdefizit ist keine Krise.

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      DAS VERBRECHEN DES von Präsident Trump 2017 unterzeichneten Steuergesetzes besteht nicht darin, dass es das Defizit vergrößerte, sondern dass es das Defizit nutzte, um denen zu helfen, die es am wenigsten brauchten. Es hat die Ungleichheit verschärft und einigen Wenigen größere politische und wirtschaftliche Macht verschafft. Die MMT geht davon aus, dass der Aufbau einer besseren Wirtschaft nicht an das Erzielen ausreichender Erträge gekoppelt ist, damit wir das bezahlen können, was wir haben möchten. Wir können und müssen von den Reichen Steuern erheben. Doch nicht, weil wir ohne sie nicht zurechtkommen. Wir sollten Milliardäre besteuern, um die Verteilung von Reichtum und Einkommen wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Gesundheit unserer Demokratie zu schützen. Doch müssen wir nicht ihre Sparschweine knacken, um die Armut abzuschaffen oder die bundesweite Jobgarantie zu bekommen, für die Coretta Scott King gekämpft hat. Das nötige Werkzeug haben wir bereits. Die angebliche Abhängigkeit von den Superreichen sendet die falschen Signale und stellt sie als viel wichtiger dar, als sie es für unsere Sache tatsächlich sind. Das soll nicht heißen, dass Defizite keine Rolle spielen und