Innerhalb der Körperphysiologie und innerhalb des Liquor cerebrospinalis gibt es verschiedene Tiden. Am leichtesten findet man die longitudinale, 8–12 Zyklen pro Minute durchlaufende Tide des Liquor cerebrospinalis. Es ist wie in einem Ozean. Allerdings bewegt sich dort die Tide nur zwei Mal am Tag herein und wieder hinaus, während es in unseren körpereigenen Mechanismen einen grundlegenden Rhythmus von 8–12 Zyklen pro Minute gibt. Den Begriff ‚Tide‘ benutzen wir einfach, um die Vorstellung in unseren Kopf zu bekommen, dass eine rhythmische Bewegung hinein und heraus stattfindet. Diese tidenartige Bewegung des Liquor cerebrospinalis ist ein Mechanismus, der ständig in Bewegung ist. Wir sagen dazu Fluid Drive.
Mit der longitudinalen Tide bewegt sich alles im Körper rhythmisch 8–12 Mal pro Minute in eine einfache Flexion und Extension, wenn es sich um eine Struktur der Mittellinie handelt, und in eine Außen- und Innenrotation, wenn es sich um eine paarige Struktur handelt. Die Gesamtheit der Körperzellen – also die Zellen des Herzens, der Lungen, der knöchernen Strukturen, alles, die ganze Sache als eine Funktionseinheit – geht das gesamte Leben hindurch in einen leichten Rhythmus von Flexion/Außenrotation und Extension/Innenrotation. Die longitudinale, also vom Kopf bis zu den Füßen reichende Tide ist in uns immer oder fast immer vorhanden und lässt sich deshalb normalerweise auch am ehesten finden, wenn wir unsere Hände an einen Patienten legen.
Es gibt laterale Fluktuationen, bei denen sich der Liquor cerebrospinalis zusammen mit den gesamten Körpereinheiten rhythmisch von einer Seite zur anderen bewegt. Dieser Typ von Muster lässt sich, falls erforderlich, in unseren Patienten induzieren. Er kann aber auch spontan erscheinen und wird dann als laterale Fluktuation palpiert und diagnostiziert. Daneben gibt es spiralförmige Fluktuationen. Dies sind kleine Strudel, die sich – vielleicht in verschiedenen Bereichen des Zentralen Nervensystems – einrollen und ausrollen.
Ich spreche zu euch über Dinge, die von jedem Behandler beobachtet werden können, der den Mechanismus versteht und mit Hilfe seiner palpatorischen Fähigkeiten das zu lesen lernt, was vom Patienten kommt. Die laterale Tide ist wie die longitudinale relativ leicht zu finden; beide sind groß und der gesamte Körper bewegt sich mit ihnen. Die spiralförmigen Tiden sind dagegen wie diese kleinen Tiere, die den Strand entlang krabbeln, oder wie die Spiralen, die das hin und her wehende Seegras nahe der Küste manchmal bildet. Sie sind nicht laut und offensichtlich. Solche spiralförmigen Tiden deuten möglicherweise auf eine gerade stattfindende lokale Veränderung hin.
Und dann gibt es noch das, was ich ‚Unterströmungen‘24 nenne. Eine ‚Unterströmung‘ ist eine Tide, die vom Behandler genutzt werden kann, um eine Veränderung zu bewirken, als Motivation für den existierenden Tidenmechanismus des Patienten sein Funktionsmuster zu ändern. Indem man sie nutzt, kann man den Tidenmechanismus im Patienten etwas modifizieren. Lässt man den Patienten in Rückenlage seine Füße in Dorsiflexion bringen, veranlasst dies den Mechanismus der gesamten Körpereinheit, in Flexion zu gehen. Wird dann, während der Patient seine Füße in Dorsiflexion hält, eine laterale Fluktuation induziert, haben wir ziemlich bald zwei Tiden, die im Körper arbeiten: eine longitudinale und darüber die laterale. Selbstverständlich geschieht all dies unter der Kontrolle eines Behandlers, der das sanfte Arbeiten mit dem Mechanismus gelernt hat und die Fluktuation langsam induzieren kann, wobei er liest, was er sorgfältig palpiert, und diese Dinge innerhalb des Patienten geschehen lässt. Probiert das aus und versucht dann selbst herauszufinden, warum ihr es vielleicht anwenden wollt.
Es gibt eine weitere Tide, die, denke ich, aus dem Weltall zu mir kam. Ich hatte einen Patienten mit einem recht ernsthaften, weitreichenden, komplizierten Problem. Ich versuchte ruhig, diesen Fluid Drive zu lesen, und arbeitete dabei innerhalb der Körperphysiologie dieses Patienten. Plötzlich wurde mir die Tatsache bewusst, dass eine größere Tide da war, und zwar parallel zu der, die 8 Zyklen pro Minute vollzog. Hier war eine große Tide, die sich anfühlte als käme sie von irgendwo her herein, und sie expandierte, stoppte, expandierte, stoppte, expandierte, stoppte. Es dauerte volle anderthalb Minuten, bis diese größere Tide hereingekommen und ein Teil der Körperphysiologie des Patienten war, und dann floss sie genauso langsam ab, wie sie hereingekommen war. Woher sie kam und wohin sie ging, weiß ich nicht, aber ihr Einfluss veränderte offensichtlich die Nährstoffversorgung einer jeden Körperzelle dahin gehend, dass sie etwas tat. Für den betreffenden Patienten war diese ernährende Versorgung sicherlich hilfreich, denn die klinische Reaktion zeigte eine Verbesserung in den dysfunktionalen Gebieten.
Seit jenem ersten Erscheinen habe ich diese lange Tide ab und zu beobachtet. Sie ist nicht etwas, was man macht oder wonach man sucht, aber wenn man osteopathische Behandlungen mit Hilfe des Primären Atemmechanismus gibt, kann sie auftauchen. Als sie zum ersten Mal erschien, arbeitete ich gerade ruhig mit etwas, das ruhige Unterstützung brauchte. Sie erscheint nur dann, wenn sie gebraucht wird und du zufälligerweise still genug bist und der Patient still genug ist, dass sie auftauchen kann. Es ist nicht notwendig, sie herbei zu befehlen.
Die Qualität der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis kann auch bei einer Diagnose genutzt werden. Lege dafür einfach ruhig deine Hände an den Patienten und frage dich: Fühlt sich dieser Mechanismus der Tidenbewegung lebendig an oder müde? Man lernt dies zu beurteilen, indem man das im Laufe eines Tages bei mehreren Patienten Erspürte vergleicht. Wie immer die Geschwindigkeit des Zyklus auch sein mag – frage: Was ist die Qualität dieser Tide? Fühlt sie sich lebendig an? Wenn man auf eine stößt, die keinen besonderen Schwung hat, sich also nicht so anfühlt, wie es sein sollte, kann man das als einen Referenzpunkt nutzen für das, was man in der Behandlungsphase tun wird.
Ein Patient, der einen müden Primären Atemmechanismus aufweist, messbar anhand der Qualität der Tide und des Funktionierens der unwillkürlichen Körpereinheiten, hat nicht die Energie, um größere Korrekturen durchzuführen. Manchmal halten die Resultate nicht an, weil nicht genug Lebensqualität verfügbar ist, um sie nach deiner korrigierenden Behandlung weiter funktionieren zu lassen. Man lernt also, innerhalb des Rahmens der Tidenvitalität im Patienten zu arbeiten, der Vitalität des Primären Atemmechanismus. Lernt, innerhalb dieses Referenzrahmens zu arbeiten, und die Korrekturen, die ihr durchführt, werden euch eher zufriedenstellen und für den Patienten sicher mehr bewirken.
Wenn ihr einen Befund bei einer Patientin macht, legt zuerst eure Hände an und versucht in aller Ruhe, ein Gespür dafür zu bekommen, wie sie sich als unwillkürliche Einheit anfühlt. Wie reagiert sie, was ist ihre Antwort? Wenn ihr nun einen Eindruck von der gesamten Patientin habt, legt eine Hand unter den Bereich, wo ihre Beschwerden sind. Im Falle eines Psoas-Spasmus, legt ihr eine Hand unter diesen spastischen Lumbalbereich und die andere Hand auf das Abdomen darüber, so dass das Problem zwischen euren Händen liegt. Nun spürt nach diesem unwillkürlichen Tiden-Mechanismus des Liquor cerebrospinalis, den ihr schon im gesamten Körper gefühlt habt. Fühlt er sich in diesem Bereich der Dysfunktion gleich an? Nein, er ist eingeschränkt, es gibt so viel Behinderung, die das Fluktuationsmuster stört. Man stellt fest, dass man nicht die gleiche Vitalität wie in der gesamten Person fühlt. Merkt euch, wie sich diese Dysfunktion anfühlt.
Jetzt macht ihr eure Behandlung. Ihr gebt der Patientin eine für diesen Tag und dieses besondere Problem passende Behandlung. Was für eine Technik ihr benutzt, spielt keine Rolle. Wenn ihr mit der Behandlung fertig seid und denkt, ihr habt eure Korrektur oder was auch immer gemacht, legt eure Hand wieder unter diesen Lumbalbereich und spürt nach der gleichen Tide, die ihr zuerst im ganzen Körper gespürt habt. Wenn ihr dann merkt, dass der eben behandelte Lumbalbereich die unwillkürliche Bewegung besser ausdrücken kann, bedeutet dies, dass eure Behandlung des Lumbal-Spasmus wirklich korrigierende Resultate erbracht hat, denn der ‚Boss‘ , der gesamte unwillkürliche Mechanismus, ist jetzt auch lokal in diesem Bereich anwesend.