Auf interessante, wenn auch jetzt historische Weise, wurde der Liquor von A. D. Speransky, einem russischen Physiologen, eingesetzt. Er beschreibt das in seinem Buch A Basis for the Theory of Medicine18 (1943), das, wie Kapitelüberschriften zeigen, u. a. folgende Themen behandelt, mit denen der Autor und seine Fachkollegen sich offenbar beschäftigt haben:
Die Verbindung der submembranösen Räume des Gehirns mit dem lymphatischen System.
Unsere Untersuchungen der Verbindung der submembranösen Räume mit dem lymphatischen System.
Die Bewegung des Liquor cerebrospinalis innerhalb der Medulla und der submembranösen Räume und
Über das Eindringen verschiedener Substanzen in den Nervenstamm und ihre Bewegung entlang des Nervs.
In seinem Kapitel über Rheumatismus beschreibt Speransky eine Methode, den Liquor zu ‚pumpen‘ :
„Das Pumpen geschah mit Hilfe einer Lumbalpunktion, vorgenommen am sitzenden Patienten. Wir benutzten eine 10.0-cc-‚Record‘ -Nadel. Das Zurückziehen und Wiedereinspritzen der Flüssigkeit wurde zwischen 8 und 40 Mal wiederholt. Beim letzten Mal wurde die Flüssigkeit entfernt. Das Ganze darf weder zu langsam noch zu schnell vor sich gehen. Ein schnelles Extrahieren, besonders im zweiten Teil der Punktion, bringt immer Kopfschmerzen mit sich, die bis zum Abend und manchmal auch noch am nächsten Tag andauern. In einigen wenigen Fällen kam es zu Erbrechen.“
Dieses plump mechanische Pumpen des Liquor innerhalb der duralen Umhüllung und der Subarachnoidalräume wurde bei einer Reihe von neurodystrophen Prozessen oder Erkrankungen angewandt. Die verwendeten Methoden waren gelinde gesagt nicht ungefährlich. Spreranskys Arbeit wurde zu seiner Zeit und auch danach sehr kontrovers diskutiert.
Bezeichnend ist seine das Kapitel 21 einleitende Feststellung: „Dieses Buch kann kein Endergebnis liefern.“ Es mag in der Tat keine anderen Schlussfolgerungen geben außer der Erkenntnis, dass das Wissen im Bereich des Liquor cerebrospinalis höchst komplex ist. Der Liquor tauscht Ionen, Stoffwechselprodukte und trophische Faktoren mit den Plexi choroidei, mit den Nervenzellen des zentralen, peripheren und autonomen Nerven-systems, mit der Hypophyse-Hypothalamus-Achse, mit der Epiphyse und mit dem lymphatischen System aus. Zusätzlich dient der dünne Liquor-film in den Subarachnoidalräumen zusammen mit den Cisternas als Wasserbett, um Gehirn und Rückenmark zu schützen.
PHILOSOPHISCHE ÜBERLEGUNGEN
Um den Liquor cerebrospinalis in einem Diagnose- und Behandlungsplan zu nutzen, braucht es mehr als eine Synthese anatomisch-physiologischer Details und mehr als ein von Laboruntersuchungen begleitetes Studium der Liquor-Charakteristika in Gesundheit, Traumen oder Krankheit. Um die Erfahrung, mit dieser lebendigen Flüssigkeit in einem lebendigen Organismus – dem menschlichen Körper – zu arbeiten, greif bar zu machen, bedarf es der Kunstfertigkeit der Palpation.
Wenn wir nun über Palpation sprechen: Ich stelle sie mir gern in zwei zusammenwirkenden Phasen vor. Es gibt den Input, also das Wahrnehmen der Aktivität im Körper mit Hilfe der Palpation, und es gibt den motorischen Output (ich nenne es angewandte palpatorische Kunstfertigkeit), der darin besteht, dass ich mit der beim Palpieren wahrgenommenen Aktivität arbeite, um eine Veränderung innerhalb dieser Aktivität oder des Funktionsmusters zu erzielen. Für mich ist solch angewandtes palpatorisches Können als motorischer Output sensibler und subtiler in der Anwendung als eine sogenannte manuelle Technik.
Alles, was ich im Rahmen einer Behandlung mit dem Liquor cerebrospinalis als einer lebendigen, bereits in Bewegung befindlichen Flüssigkeit tue, erfordert von mir als Behandler Sensibilität, wenn ich bei meiner klinischen Nutzung der Flüssigkeitsdynamik des Liquor cerebrospinalis maximale Effektivität erreichen will. Das Thema Palpation bringt uns zu einer weiteren erwähnenswerten Eigenschaft: Zur Palpation gehört die Nutzung von Energie sowohl beim sensorischen Input wie auch beim motorischen Output und sie kann nur mit Hilfe von Quantenphysik erklärt werden.
Ein Artikel in Science News fasst diesen Gedanken zusammen:
„Mechanistische Philosophie der klassischen Wissenschaft: Ein Ding hat eine eigene objektive Realität. Die Basis von Wissenschaft ist Objektivität […] im Bereich der Quantenphysik jedoch eher nicht. Daher macht die Quantenphysik den Beobachter zum Beteiligten. Nicht nur im Sinne von Heisenberg, dass der Beobachter das stört, was er misst, sondern in dem tieferen Sinne, dass das, was er zu messen beschließt, das Ergebnis seiner Messung bestimmen wird. Getrennt vom Akt des Beobachtens hat die Realität keine objektive Existenz. Wheeler kommentiert: ‚Auf merkwürdige Weise ist dies ein Universum des Beteiligtseins. Was wir gewohnt waren ‚physische Realität‘ zu nennen, stellt sich nun im Wesentlichen als Papiermaschee-Konstruktion unserer Vorstellung heraus, eingegipst zwischen die soliden eisernen Säulen unserer Beobachtungen. Die einzige Realität bilden diese Beobachtungen.
Und er fasst zusammen:
„Bevor wir nicht sehen, warum das Universum so gestaltet ist, haben wir nicht das Geringste davon verstanden … wir können davon ausgehen, dass wir erst dann verstehen werden, wie einfach das Universum ist, wenn wir erkennen, wie seltsam es ist.“ 19
Mir geht es um Folgendes: Wenn ich als Behandler mit den lebendigen Fluktuationsmustern des Liquor cerebrospinalis im Patienten arbeite, bin ich an diesem Fluktuationsmuster beteiligt. Ich habe teil an der Erfahrung dessen, was ich durch die Palpation mit sensorischem Input beobachte, und dessen, was sich als Resultat des in Form eines motorischen Outputs angewandten palpatorischen Könnens innerhalb des Musters verändert. Die einzige in Betracht zu ziehende Realität ist ständige Veränderung – Veränderung, die stattfindet, während ich die Muster beobachte, Veränderung, die stattfindet, während angewandtes palpatorisches Können Muster modifiziert, und Veränderung, die sich in der anatomisch-physiologischen Struktur des Patienten vollzieht, wenn sie im Anschluss an mein Diagnose- und Behandlungsprogramm die an diesem Tag geschehene Arbeit fortsetzt.
Es ist äußerst wichtig, dass der Behandler bei seinem Palpieren der Funktionsweise des Liquor cerebrospinalis die Rolle des Beteiligten einnimmt.
Mir gefällt der Gedanke, Beteiligter zu sein anstatt außenstehender Beobachter, wenn es gilt, sich um ein Problem im Körper des Patienten zu kümmern – mag dies nun eine Dysfunktion des Bewegungsapparates, ein fasziales Dysfunktionsmuster oder ein mit dem Primären Atemmechanismus zusammenhängendes sein. Ich habe bei der Diagnose wie bei der Behandlung das Gefühl, dass ich die Veränderungen, die im Patienten stattfinden, direkt erfahre und so in Bezug auf die Art der Dysfunktion einen besseren diagnostischen Einblick bekomme. Ich kann daher bei den an diesem Tag möglichen Korrekturen auch die Behandlungsresultate besser beeinflussen. Ich finde es notwendig, den Gedanken zu akzeptieren, dass ich ein Beteiligter bin, und dieses Bewusstsein während meiner diagnostischen und therapeutischen Überprüfung aufrechtzuerhalten. Denn als Beteiligter erreiche ich bei dem, was ich erfahre, wie auch bei den Behandlungsresultaten eine viel tiefere Qualität als in der Rolle eines außenstehender Beobachters.
Wenn wir beim Arbeiten mit den natürlichen Ressourcen im Körper, zu denen auch der Liquor cerebrospinalis gehört, die sensorischen und motorischen Qualitäten unseres Bewusstseins nutzen wollen, müssen wir, um die Mechanismen, um die es hier geht, besser verstehen zu können, zunächst drei Begriffe – Selbst-Organisation, Fluktuation und Transmutation – definieren und zwei Prinzipien – den Atem des Lebens und das Atmen von Luft – erläutern.
Selbstorganisation: die dem Menschen angeborene Fähigkeit, Leben physisch, mental, emotional und philosophisch auszudrücken.
Jeder Mensch hat zwei Mechanismen, die lebenslang zusammenwirken: eine willkürliche Fähigkeit zu arbeiten, zu spielen und zu ruhen, und einen komplexen unwillkürlichen Mechanismus, der dafür geschaffen ist, Gesundheit aufrechtzuerhalten und sich an