Jetzt, nach ewig langer Entwicklung, ist der Körper zu dem geworden, was er heute ist. Den Geboten seines Ursprungs folgend braucht er einen unwillkürlichen Mechanismus, um sich zu bewegen und lebendig zu bleiben, um das zu sein, was er ist: eine Körper-Geist-Struktur, ein anatomisch-physiologischer, funktionierender Mechanismus. Wir haben viele unwillkürliche Systeme in unserem Körper – Kreislauf, Verdauung usw. Aber die Schlüsselrolle im menschlichen Körper hat ein ganz spezieller unwillkürlichen Mechanismus: Jede einzelne Körperzelle, jede einzelne individuelle Zelle, die innerhalb der Flüssigkeiten lebt, in denen sie entsteht, wird 10–12 Mal pro Minute in Flexion und Extension, in Außen- und Innenrotation bewegt.
Wenn wir also einen gesunden Patienten haben – egal ob er ruhig sitzt, umher geht, tief schläft, läuft, ganz aktiv ist oder sich in völliger Ruhe befindet – vollzieht sich überall in ihm diese unwillkürliche physiologische Funktionsbewegung. Wir konzentrieren uns auf den neurokranialen und den sakralen Mechanismus als die Teile, die diesen Mechanismus, diese unwillkürliche Bewegung offenbaren. Aber die neurokraniale und die sakrale Aktivitätsachse, ihre physiologische Funktion, ist, wenn man so sagen will, mehr oder weniger die Antriebswelle des Systems, mit deren Hilfe alle Räder und Flaschenzüge sowie alles, was da so direkt aus der Fabrik kommt, zum Verrichten ihrer Arbeit gebracht werden – Flexion/ Außenrotation und Extension/Innenrotation. Also kann man den neurokranialen und sakralen Mechanismus auf keinen Fall als eine von der gesamten Körperphysiologie abgetrennte Einheit verstehen. Jedes Mal, wenn wir unsere Hände an einen Patienten legen, haben wir es mit dem größten und wichtigsten unwillkürlichen System im menschlichen Körper zu tun. Jedes Mal, wenn wir diesen Patienten berühren, ganz egal ob wir uns dabei auf ein winziges Fingergelenk oder ein ganzes Bein beziehen, müssen wir uns auf diesen unwillkürlichen, physiologischen Mechanismus einstimmen.
Willkürliche Mechanismen entsprechen all dem, was der Entscheidungen fällende Anteil unseres Gehirns mit diesem unwillkürlichen Ding zu tun beschließt. Ich entscheide mich zu gehen, zu stehen oder zu sitzen; ich entscheide mich zu reden, zu essen und zu denken (oder zu denken, dass ich denke); ich kann eine Million Entscheidungen treffen. Ich entscheide mich, Emotionen zu haben oder Gedanken – das alles ist willkürlich. Dies sind Aktivitäten, die wir auf intelligente Art und Weise nutzen können, indem wir versuchen, sie weder zu beleidigen noch sie verhungern zu lassen oder auf übermäßige Weise zu beanspruchen. Wir benutzen sie einfach im normalen täglichen Leben, und sobald wir aufhören, sie zu einzusetzen, sinken sie einfach dorthin zurück, wo sie herkamen, und unser unwillkürlicher Mechanismus fährt fort, uns zu unterstützen, bis wir wieder die Anweisung geben, dass das Willkürliche etwas anderes tun soll. Es ist die willkürliche Seite im Leben, die uns in schwierige Situationen bringt, nicht die unwillkürliche. Wenn ein Patient mit einem Stress- oder Dysfunktionsmuster kommt, egal auf welcher Ebene – mentale Erschöpfung, emotionaler Schock oder körperliche Folgen von Krankheit oder Traumen: Wenn ich dann ganz still dasitze und mit dem Problem arbeite, wenn meine Hände sich ruhig hinein und heraus und durch die zellulären Strukturen bewegend die Faszien, die Flüssigkeiten und die Mechanik dieses menschlichen Körpers suchen, erkenne ich, dass dieser Mechanismus sogar schon bevor ich mit ihm in Kontakt kam, automatisch versucht hat, dieses Problem mit Hilfe des unwillkürlichen Mechanismus hinaus zu spülen. Wenn ich dann still in Kontakt mit ihm komme, stimme ich mich ein auf diesen unwillkürlichen Mechanismus, die unwillkürliche physiologische Bewegung unter diesem Trauma. Ich versuche, hindurch zu fühlen in den unwillkürlichen Mechanismus, innerhalb dessen dieses Trauma geschehen ist. Dann versuche ich, mit meiner Arbeit eine Balance auf der Mikroebene zu finden, die notwendig ist, um an den Punkt heranzukommen, wo dieser unwillkürliche Mechanismus sich aus den Fesseln, die ihn hemmen, lösen kann. An diesem Punkt kann ich fühlen, wie diese kleine Veränderung im Patienten stattfindet, die gleichsam sagt: ‚Ja, jetzt kann ich etwas für dieses Problem tun‘ ; und während er durch seinen Fulkrum-Punkt, seinen Stillpunkt, seinen Balancepunkt hindurchgeht, vollzieht sich ein Wechsel hin zu einem Zustandsmuster, in dem der unwillkürliche Mechanismus in diesem Bereich des Körpers nicht länger beeinträchtigt wird. Wenn er seinen Kopf reckt und sagt: ‚Gut, jetzt kann ich anfangen zu arbeiten‘ , ist es, als ob ein Steinchen in einen stillen Teich fällt: Man sieht, wie die Wellen dieser unwillkürlichen Aktivität sich ausbreiten, nicht nur von der Stelle wo man arbeitet, sondern im ganzen unwillkürlichen System überall im Körper. Man kann spüren, wie es sich ausbreitet und ausbreitet und ausbreitet.
Wenn ich, nachdem diese Veränderung stattgefunden hat, zurückgehe und überprüfe, wie sich das willkürlich induzierte Trauma bzw. der Prozess verhält, entdecke ich, dass es – falls es ursprünglich nicht zu schlimm war – nicht mehr da ist. In diesem gesamten Prozess beachte ich niemals die Dysfunktion selbst, bis ich nicht den unwillkürlichen Mechanismus aufgeweckt habe. Das, was dann noch korrigiert werden muss, ist normalerweise so geringfügig, dass es praktisch gar nicht existiert. Man muss sich kaum anstrengen, um es zu korrigieren.
Nun, was für eine Veränderung ist das, die in diesem unwillkürlichen Mechanismus geschieht? Wie lange dauert es, bis sie stattfindet? Eine gute Illustration liefert hier das bekannte Treppen-Bild von Escher. Führt es treppauf oder treppab? Beobachtet es, bis ihr seht, wie sich die Stufen bewegen. In einer Nanosekunde verändern sie sich in eurer Wahrnehmung und werden von hinaufführenden zu hinunterführenden Stufen. Das ist die Veränderung, von der Eiseley spricht, die unendliche Vielfalt an Mustern, von einem Funktionszustand zum andern, in dem unwillkürlichen Mechanismus, mit dem ihr arbeitet. So lang dauert es. Das ist der Zeitraum, den die Veränderung braucht. Unser Job als Behandler ist es, uns still von innen heraus einzustimmen, um dieses Geschehen zu begreifen. Unser Verständnis entsteht aus etwas heraus, das wir spüren, wenn auch nicht erklären können. Was wir, weil es für uns wahrnehmbar ist, fühlen, ist eine Folge. Und doch können wir beobachten, dass in dieser Nanosekunde tatsächlich etwas geschieht. Wir können beobachten, welches Muster zuvor da war und welches danach, und sind – weil wir die Details der physiologischen Bewegung eines jeden Teils dieses unwillkürlichen Mechanismus nicht nur in den kraniosakralen Achsen, sondern im gesamten System studiert haben – mit unserem intelligenten Verstehen in der Lage, dies für klinische Zwecke nutzbar zu machen.
EIN UNIVERSELLES DESIGN
Es gibt in diesem Kraniosakralen Mechanismus und in der gesamten Anatomie und Physiologie des ganzen Körpers auch den Aspekt der Universalität. Ungefähr zehntausend Generationen oder drei Millionen Jahre hat es gedauert, um den menschlichen Körper zu dem zu machen, was er heute ist. Grundsätzlich ist er so gestaltet, dass er als willkürlicher und unwillkürlicher Mechanismus funktioniert. Der einzige Grund, warum wir heute hier sitzen, ist, dass wir das Produkt von x Menschengenerationen sind, die es geschafft haben, zu überleben. Daher sind die Mechanismen in uns allesamt solche, die von der Natur zum Überleben bestimmt wurden.
Mit anderen Worten: Der fundamentale Leitgedanke in den Heilkünsten (ich habe absichtlich nicht gesagt ‚im osteopathischen Berufsstand‘ , weil es hier um etwas geht, was die Angehörigen aller Heilkünste verstehen sollten), der fundamentale Leitgedanke also ist, dass der Körper vom Kopf bis zu den Füßen einen wunderschönen Mechanismus darstellt und, obgleich aus vielen Teilen bestehend, als umfassende Einheit, als universelle Funktionseinheit gestaltet wurde. Je klarer wir verstehen, wie er in uns selbst als ein ganzheitlicher Mechanismus funktioniert – und damit meine ich sowohl den willkürlichen als auch den unwillkürlichen Teil –, desto präziser kann unsere Diagnose werden und desto fähiger sicherlich auch unsere Behandlung.
Gestern sprach man im Fachbereich über die architektonischen Grundlagen der Knochen des Neurokraniums. Wir alle haben Ossa temporalia, ein Os occipitale und sphenoidale, wir alle haben zwei Ossa parietalia und funktionell gesehen auch zwei Ossa frontalia. Es ist egal, wem sie gehören: In jedem von uns sind sie in der Hinsicht gleich, dass sie ein anatomisches Funktionsprinzip darstellen. Es gibt bei uns Angehörigen der Heilkunst eine automatische