Der Ton von Staunen und Ehrfurcht, diese Haltung der Demut bei Menschen, die auf ihren Entdeckungsreisen ins All extremen persönlichen Mut bewiesen hatten, verknüpfte sich unlösbar mit den Fotos. Die Herausforderung an uns alle, so Harrison Schmitt, der Fotograf von blue marble, ist es, diese Heimat zu behüten und zu schützen. Gemeinsam. Als Menschen dieser Erde. Das kühne Abenteuer, das technische Wunder, das ästhetische Faszinosum bekam in dieser modernen Saga eine ethische und spirituelle Dimension. Millionenfach reproduziert wurden die Bilder den Bewohnern des entstehenden globalen Dorfes zugänglich. Sie erforderten kein Wissen über Astronomie, Geografie oder Ökologie. Jeder und jede, auch jeder Analphabet konnte sie betrachten, bestaunen, unmittelbar verstehen. Die Umkehr des Blicks erzeugte ein Wir-Gefühl, das nun nicht mehr nur auf einen Nahraum begrenzt war, sondern die ganze Erde einschloss.
Als ozeanisches Gefühl hatte Sigmund Freud 1930 »die Empfindung der Ewigkeit« beschrieben: als ein Gefühl »wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam Ozeanischem«. Dieser Ausnahmezustand der Selbstentgrenzung, der Ausweitung des Ichs in die Welt hinein, sei, so Freud, jenseits aller Religionssysteme, jenseits jeden Glaubens und jeder Illusion als »religiös« zu bezeichnen. Man hat die beiden Fotos aus dem All als Ikonen unserer Epoche bezeichnet. Eine Ikone ist im Verständnis der russisch-orthodoxen Kirche, aus der die Ikonenverehrung kommt, mehr als ein Abbild. Auch mehr als ein Sinnbild. Ihre Bildmagie gebe vielmehr die Sicht auf das Geheimnis frei. Sie öffne ein Fenster zur Ewigkeit. Auf eine unerklärliche Weise sei in dem Bild das Heilige selbst anwesend. In der Ikone aus dem Kosmos sahen wir zum ersten Mal das Antlitz von Gaia – Mutter Erde.
15 Jahre nach dem letzten Mondflug erschien der Brundtland-Bericht der UN. Seine ersten Sätze zeigen, wie stark der Entwurf der Nachhaltigkeit von dem neuen Weltbild geprägt war:
In der Mitte des 20. Jahrhunderts sahen wir zum ersten Mal unseren Planeten aus dem Weltall… Was wir aus dem All sehen, ist eine kleine und zerbrechliche Kugel, die nicht von menschlichen Aktivitäten und Bauwerken dominiert ist, sondern von einem Muster aus Wolken, Ozeanen, grüner Vegetation und Böden… Die Unfähigkeit der Menschheit, ihr Verhalten diesem Muster anzupassen, verändert die planetarischen Systeme fundamental. Viele dieser Veränderungen sind begleitet von lebensbedrohlichen Gefahren. Diese neue Realität, der wir nicht entfliehen können, müssen wir erkennen und steuern.
Stummer Frühling
Silent spring – Stummer Frühling. Eine geniale Metapher, Titel eines Buches der amerikanischen Meeresbiologin Rachel Carson. Ihr Thema war der Krieg des Menschen gegen die Natur. 1962 ist das Buch erschienen und trug weltweit zum Erwachen des Umweltbewusstseins bei. Stummer Frühling – das bezog sich auf ein zartes Klanggebilde, die so innigen, melodischen, von sehr hoch bis tief auf- und absteigenden Tonketten des Rotkehlchens. Das Tirilieren und Flöten dieses kleinen Singvogels, schon sehr früh morgens und noch spät abends vom Männchen, aber auch vom Weibchen zu hören, empfindet unsere Psyche als ganz besonders aufmunternd. In dieser Metapher ist die einfache Frage aufgehoben: Was verlieren wir, wenn – beispielsweise – der Gesang des Rotkehlchens aus unserer Umwelt (environment) verschwindet? Man kann mit Fug und Recht sagen: Der Entzug von Naturschönheit hat die moderne Umweltbewegung in Gang gesetzt.
Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alles Leben in Harmonie mit seiner Umgebung zu leben schien. So setzt die Fabel für morgen im Anfangskapitel von Rachel Carsons Buch ein. Das Städtchen lag inmitten blühender Farmen mit Kornfeldern, deren Gevierte an Schachbretter erinnerten, und mit Obstgärten an den Hängen der Hügel, wo im Frühling Wolken weißer Blüten über die grünen Felder trieben… Das Bild einer heilen Welt, und dann der Schock: Eine seltsame Seuche tauchte in der Gegend auf und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Der nächste Frühling kam. Es herrschte eine ungewöhnliche Stille… Die wenigen Vögel, die sich noch irgendwo blicken ließen, waren dem Tode nah; sie zitterten heftig und konnten nicht mehr fliegen. Es war ein Frühling ohne Stimmen… Schweigen lag über Feldern, Sumpf und Wald.
Die Idylle ist kontaminiert. Das Wort, das Rachel Carson hier benutzt, bedeutet im lateinischen Ursprung nicht nur verschmutzt oder vergiftet, sondern auch: befleckt, besudelt, entweiht. Silent Spring ist die erste frontale Attacke auf die »Todeselixiere« der chemischen Industrie, die ab Mitte der fünfziger Jahre von Flugzeugen aus an vielen Orten der USA flächendeckend versprüht wurden. Zur »Schädlingsbekämpfung«, zum »Schutz« von Pflanzen. Es waren vor allem Frauen, die sich Ende der fünfziger Jahre an die schon berühmte Naturschriftstellerin wandten. Eine Hausfrau aus dem Mittleren Westen schrieb ihr, dass nach einer DDT-Sprühaktion innerhalb eines Jahres sämtliche Rotkehlchen verschwunden seien. Eine Journalistin aus einer Kleinstadt an der Ostküste berichtete, wie nach einem solchen Gifteinsatz sieben Singvögel tot an ihrer Vogeltränke lagen. Eine New Yorker Waldorflehrerin, Besitzerin eines Gartens auf Long Island, in dem sie nach biologisch-dynamischen Verfahren Kräuter und Gemüse anbaute, schickte ihr die Prozessakten eines Gerichtsverfahrens. Sie hatte die Kontaminierung ihres Gartens bis vor den Obersten Gerichtshof gebracht.
Was war der Hintergrund? Um das Ulmensterben durch einen Pilzbefall, der in den fünfziger Jahren in den nordamerikanischen Parks und Alleen grassierte, in den Griff zu bekommen, hatten die Behörden um 1954 begonnen, massiv die Chemikalie DDT einzusetzen. Die Blätter der so behandelten Bäume aber dienten im Herbst den Regenwürmern zur Nahrung. Diese lagerten das Gift in ihrem Gewebe ab. Die Würmer wurden wiederum im Frühjahr von den heimkehrenden Singvögeln gefressen oder an ihre Brut verfüttert. Nahrungsketten wurden zu Todesfallen. Ein Frühling ohne den Morgen-Chorus der Singvögel in Wald, Feld und Garten. Wollen wir das? Wollen wir wirklich darauf verzichten? Ist dieses Naturphänomen nicht ein Element unseres emotionalen Wohlbefindens und damit unseres Wohlstands? Die Frage machte Rachel Carson zum Ausgangspunkt ihres Buches.
Fakten- und materialreich belegt sie die verheerende Wirkung von DDT und anderen Chemikalien auf das Leben im Boden, im Wasser und in der Luft. Mit demselben Zorn prangert die Autorin – beim Schreiben des Buches war sie bereits unheilbar krebskrank – das Strontium 90, die Strahlung aus dem Fall-out der Atombombenversuche, an. Ihre Botschaft: Die Natur schlägt zurück – wenn wir nicht sehr schnell umdenken, die Kontaminierung unserer Welt einstellen und zu den Prinzipien zurückkehren, nach denen die Natur selbst arbeitet. Rachel Carsons Buch befreite die junge, in einer Nische agierende wissenschaftliche Ökologie aus dem Elfenbeinturm und popularisierte deren wesentliche Botschaft: In der Natur ist alles mit allem verbunden.
Nach dem Erscheinen von Silent Spring wurde Rachel Carson in einer beispiellosen, von der chemischen Industrie gesteuerten Medienkampagne als hysterisch, als Lügnerin, Fälscherin und Kommunistin diffamiert. Sie musste sich die Frage gefallen lassen, warum sich eine kinderlose Frau über das Erbgut Sorgen mache. Rachel Carson starb im Frühling 1964. Acht Jahre später, 1972, kündigte der Vertreter der US-Regierung auf dem Stockholmer Umweltgipfel der UN ein Verbot des Einsatzes von DDT in der Landwirtschaft