In beiden Fällen ist Nachhaltigkeit der Gegenbegriff zu »Kollaps«. Er bezeichnet, was standhält, was tragfähig ist, was auf Dauer angelegt ist, was resilient ist, und das heißt: gegen den ökologischen, ökonomischen und sozialen Zusammenbruch gefeit. Was frappiert: Die beiden Bestimmungen aus so unterschiedlichen Epochen sind annähernd deckungsgleich. Sie verorten »Nachhaltigkeit« im menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit.
Um in den inneren Sinnbezirk dieses Wortes zu gelangen, sollte man weit ausgreifen. Dieses Buch will auf dem Weg über die Sprache und die Begriffsgeschichte zur Klärung und Sensibilisierung beitragen. Es erzählt davon, wie sich in langen Zeiträumen intuitives Vorsorgedenken zu einem Begriff kristallisierte. Wie unter dessen Schirm ein Wortfeld entstand, auf dem sich alltäglich gewordene Vokabeln wie Ökologie, Umwelt, Lebensqualität und sogar Management herausbildeten. Wie ein Wort kühne Träume und Hoffnungen aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte speicherte und zu einer Zukunftsvision bündelte. Wie sich uraltes Überlebenswissen mit Errungenschaften unserer Hightech-Ära verknüpfte. Es handelt vom langsamen Wachstum einer Idee und von den komplexen Beziehungen zu den Lebenswelten, in denen sie sich entwickelte. Es benennt aber auch die Irrwege, die man dabei ging. »Der Tag ist abgegriffen. Lasst uns in den Morgen zu rücksteigen«, empfahl der Dichter Christian Morgenstern. Das Buch lädt dazu ein, einen Schritt zurückzutreten: Aus der dabei gewonnenen Distanz heraus Maß nehmen, Maßstäbe gewinnen, um die Gedankenwelt, den Begriff und das Wortfeld Nachhaltigkeit für sich selbst neu zu vermessen, seine Gravität, also seine Schwerkraft, aber auch seine Elastizität zu verstehen.
* Kursiv gesetzt sind in diesem Buch alle Zitate, in denen die Sprache der Nachhaltigkeit erscheint. Alle anderen Zitate stehen in Anführungszeichen. Die Nachweise finden sich im Anhang unter der jeweiligen Seitenzahl.
ZWEI
EIN SPERRIGER BEGRIFF
Begriffsverwirrung
Was assoziieren wir mit dem Wort Nachhaltigkeit? Ist es glasklar oder nebulös? Ist es vor allem ein Lichtblick, mit positiven Erwartungen besetzt? Oder ist es ein Langweiler? Setzt es Fantasien frei? Klärt es Zusammenhänge? Oder verschleiert es Abhängigkeiten? Wie auch immer man in seinem eigenen Wortschatz damit umgeht, man sollte möglichst genau wissen, wovon die Rede ist.
In den letzten Jahren ist die Klage über die »inflationäre Verwendung«, die Verwässerung, die Begriffsverwirrung zum Mantra geworden. Aus meiner journalistischen Arbeit kenne ich Leute, die das Wort nicht in den Mund nehmen, ohne dabei mit gekrümmten Zeige- und Mittelfingern Gänsefüßchen in die Luft zu malen. Das Wort ist in das mediale Feuerwerk der Reklamesprache geraten. »Nachhaltigkeit der Diät«, »nachhaltige Befreiung der Kopfhaut von Schuppen«, »nachhaltiger Ausbau der Kapitalkraft« – nichts ist unmöglich. In der Schweiz weihte man einen Monat vor dem Kopenhagener Klimagipfel »die nachhaltigste Autobahn aller Zeiten« ein.
Was meint, wer von »nachhaltigem Wachstum« spricht? Stetiges Wachstum des Bruttosozialprodukts oder eines Firmenimperiums mit allen damit verbundenen ökologischen und sozialen Kollateralschäden? Das Wachstum grüner Strukturen innerhalb einer womöglich schrumpfenden Ökonomie? Manchmal ist gedankliche und sprachliche Schlamperei im Spiel. Allzu oft freilich werden bewusst Nebelkerzen gezündet. »Greenwashing« nennt man das in den USA. In Anlehnung an das biblische »seine Hände in Unschuld waschen« – oder auch an die im Kalten Krieg aufgekommene Redewendung von der »Gehirnwäsche«. Aus der Verwirrung lässt sich Kapital schlagen.
Der Trick ist simpel, aber nicht ganz einfach zu durchschauen. Denn das Wort führt im Deutschen ein Doppelleben: einmal als allgemeinsprachliches Wort, dann als politischer Begriff. Was bedeutet »nachhaltig« auf der Ebene der Gemeinsprache? Zunächst einmal tatsächlich nichts weiter als »nachdrücklich«, »intensiv«, »dauerhaft«. Siehe Goethes Wortwahl im »Wilhelm Meister«-Roman von 1796: »Er schien nunmehr zum ersten Male zu merken, daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wirken.« So weit, so gut. Das Verwirrspiel setzt da ein, wo die Ebenen verwischt werden. Wo man in der Sache im Rahmen der alltags sprachlichen Bedeutung bleibt, jedoch suggeriert, man meine die neue, ökologisch aufgeladene Bedeutung des Begriffs. Eine schlich te Gewinnerwartung für die nächsten zwei, vielleicht drei Jahre mutiert so zu einer nachhaltigen, will sagen: ökologisch verantwortlichen und sozial gerechten Rendite. Fatal ist es, wenn »Nachhaltigkeit« gegen vermeintlich überzogene Forderungen von Umweltschützern in Anschlag gebracht wird: Man erklärt den Bau eines Kohlekraftwerks zur »nachhaltigen« Lösung, weil es sauberer sei als das alte und Arbeitsplätze erhalte.
Wo der Begriff seiner Substanz beraubt ist, lässt sich damit wenig – oder alles – machen. Noch den banalsten Vorgang, ja sogar die rücksichtsloseste Plünderung des Planeten, kann man mit diesem entkernten Begriff als »nachhaltig« ausgeben.
Das Wort ist auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktiv. »Nach« und »halt«, »-ig« und »-keit« – das klingt statisch, sperrig, irgendwie dröge. Selbst unter Experten ist das Unbehagen weit verbreitet. Bei einer Fachtagung in Berlin hörte ich vor einigen Jahren den damaligen grünen Umweltminister händeringend an das Auditorium appellieren, ihm eine bessere Übersetzung für sustainability zu liefern. Nachhaltigkeit sei schwerfällig, nicht vermittelbar, einfach »nicht sexy«. Aber was ist, wenn sustainability historisch eine Übersetzung von Nachhaltigkeit war – und nicht umgekehrt? Bei meinem Gang durch die Wälder der Aufklärung komme ich darauf zurück. Und was ist, wenn in der »Sperrigkeit« des Begriffs Nachhaltigkeit gerade sein subversives Potenzial liegt?
Im Umfeld des Kopenhagener Klimagipfels von 2009 führten manche Thinktanks und Medien ein neues Vokabular ein. Von nun an soll eine klimagerechte Strategie den Weg in eine postkarbone Zivilisation bahnen. So notwendig der Übergang zu einer CO2-neutralen Entwicklung ist – dieses Vokabular kann das Wortfeld der Nachhaltigkeit ergänzen, den Hauptbegriff jedoch keineswegs ersetzen.
Eine kleine Szene aus »Alice hinter den Spiegeln«, Lewis Carrolls Kinderbuch aus dem England des 19. Jahrhunderts, beschreibt den Mechanismus von semantischen Machtspielen aller Art: »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ›dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.‹ ›Es fragt sich nur‹, sagte Alice, ›ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‹ ›Es fragt sich nur‹, antwortete Goggelmoggel, ›wer der Stärkere ist, weiter nichts.‹ Alice war zu verwirrt, um darauf noch eine Antwort zu finden…«
Wortkörper
Sustainability, hållbar utveckling, desarrollo sostenible, chi xu fa zhan, Nachhaltigkeit – im globalen Dorf ist das Wort allgegenwärtig. Speist man es nur in ein paar Sprachen als Suchbegriff bei Google ein, bekommt man innerhalb von Sekunden etliche Millionen Treffer. Es gibt, nimmt man das Internet als Messlatte, nicht viele Themen, die am Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Menschheit so stark beschäftigen.
Der moderne Begriff hat jedoch tiefe Wurzeln und eine lange Tradition. Alte Wörter sind in der Regel mit den vergangenen Bedeutungen aufgeladen. Diese archäologischen Schichten möchte ich freilegen, um an das Potenzial heranzukommen, das sich dagegen sperrt, mit unserer gegenwärtigen Normalität gleichgeschaltet zu werden. Dazu ist es notwendig, mehrsprachig zu verfahren. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Wortkörper in der Gestalt, wie er 1987 im Brundtland-Bericht der UN definiert ist: Sustainable development.
Was genau bedeutet sustainable? Der eine Bestandteil der Wortbildung ist schnell erklärt. -able heißt können, fähig