*
Das letzte Wort des Sonnengesangs lautet: humilitate – Demut. Nackt ausgestreckt auf nackter Erde sterben war Franziskus’ letzter Wille. So ist er der Legende nach Bruder Tod begegnet. Seinen Sterbeort, die schlichte Capella del Transito im Waldtal unterhalb von Assisi, hat man im 17. Jahrhundert mit einer monumentalen Barockbasilika überwölbt.
Zur selben Zeit suchte nördlich der Alpen der französische Aufklärer Descartes nach einer Philosophie, die »für das Leben nützlich« ist. Wie Franziskus beschäftigte er sich mit den Elementen. Er wollte »die Kraft und Wirkung des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, der Himmel und aller übrigen Körper in unserer Umwelt« erforschen, um sie »zu allem möglichen Gebrauch zu verwerten«. Seine Idee: Die Menschen »zu Herrn und Eigentümern der Natur zu machen.«. Ein härterer Kontrast zum franziskanischen Ideal ist kaum denkbar.
Die Schöpfung bewahren
Der Mensch hat die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen, verloren. Er wird am Ende die Erde zerstören. Das war Albert Schweitzers Befund. Er setzt voraus, dass der Mensch potenziell fähig ist, die Erde zu bewahren. Dem mittelalterlichen Denken war diese Vorstellung fremd. Die Bewahrung der Schöpfung galt als das Werk der »göttlichen Vorsehung«. Mehr als ein Jahrtausend lang – von Augustinus bis Luther – gehörte die Lehre von der »Providentia Dei« zum Fundament des christlichen Glaubens. Dieser theologische Fachbegriff vereinte ein ganzes Spektrum von Bedeutungen: Vorherbestimmung, Vorausschau, Vorsorge, Fürsorge. Dem Menschen war dabei eine untergeordnete Rolle zugewiesen. In der Epoche der Aufklärung kollabierte der Glaube an die Providentia. Aus seinen Trümmern aber, so meine These, stammen tragende Pfeiler des modernen Nachhaltigkeitsdenkens. Ein Blick auf das alte Gerüst ist deshalb höchst aufschlussreich.
Die Vorstellung existierte schon in der antiken Philosophie: Die große Zweckmäßigkeit und Schönheit sowohl in den allerkleinsten Dingen wie in den größten Zusammenhängen von Natur und Kosmos verweisen auf eine ordnende Kraft. In Anbetracht ihrer umfassenden Wirkung kann diese nur göttlichen Ursprungs sein. Bereits die griechischen Philosophen Anaxagoras, Platon und Epikur sprachen in diesem Zusammenhang von göttlicher »Vorsehung« und »Fürsorge« (tou theou pronoia). Die Philosophen der Stoa formten daraus ein Weltbild: »Alles ist wie ein heiliges Band miteinander verflochten … Aus allem zusammengesetzt ist eine Welt (unus mundus) vorhanden, ein Gott, alles durchdringend, ein Körperstoff, ein Gesetz«, schrieb der Philosoph auf dem römischen Kaiserthron, Marc Aurel. Eine Welt – unus mundus – schon damals! Der venunftbegabte Mensch ist in der Lage, die gegebene Ordnung als sinnvoll wahrzunehmen, ihre Schönheit zu genießen und sich in ihr einzurichten. Wohlgemerkt: sich in der Welt einrichten. Nicht: die Welt einrichten und sie nach dem Prinzip der Nützlichkeit »managen«.
In der frühen christlichen Theologie schließt die Providentia-Lehre unmittelbar an die Schöpfungsgeschichte an. Nach dem Entwurf von »unus mundus« und dem Schöpfungsakt (creatio) »aus dem Nichts heraus« (ex nihilo) hat Gott sein Werk keineswegs verlassen. Sein Wille bleibt in der Schöpfung präsent. Er wirkt mit seiner Allmacht und nach seinem Plan weiter in sie hinein. »Providentia« meint die conservatio – Erhaltung – der Welt und die Fortsetzung der Schöpfung. Gott sorgt für alle seine Geschöpfe, erhält sie auf Dauer in ihrer Existenz, führt sie ihrer Bestimmung, ihrem Telos, nämlich der Erlösung, entgegen. Schon ein Dokument aus der urchristlichen Gemeinde Roms, der sogenannte 1. Clemensbrief, geschrieben um das Jahr 100, handelt von der »Nachhaltigkeit« des göttlichen Willens:
Die Himmel, kreisend durch sein Walten, ordnen sich ihm in Frieden unter. Tag wie Nacht vollenden sie den von ihm angeordneten Lauf, ohne einander zu behindern. Sonne und Mond und die Chöre der Sterne durchlaufen entsprechend seiner Anordnung in Eintracht ohne jede Überschreitung die ihnen vorgeschriebenen Bahnen. Die fruchttragende Erde bringt nach seinem Willen und zu den entsprechenden Zeiten Nahrung hervor in Fülle für Menschen und Tiere und alle Lebewesen auf ihr, ohne dass sie jemals abweicht von dem, was durch ihn festgelegt ist.
Das Werk der Vorsehung übersteigt freilich alle menschliche Erfahrung. Folglich ist es nicht immer leicht zu durchschauen. Für diesen Sachverhalt bringt der Kirchenvater Augustinus die »unsichtbare Hand« ins Spiel. Gott, so schreibt er in seinem Buch »Über den Gottesstaat«, arbeite nicht wie ein Künstler, der seine Werke mit »körperlichen Händen« aus »irdischen Stoffen« gestalte, sondern »die Hand Gottes ist die Macht Gottes, die auch sichtbare Dinge auf unsichtbare Weise wirkt«. Auch hier ein Denkbild, das in säkularisierter Form weiterwirkte: Adam Smith hat sich aus dem Steinbruch der Providentia-Lehre bedient, als er 1776 die »unsichtbare Hand« des freien Markt für heilig erklärte.
Eins jedenfalls ist gewiss: Aus einem Kirschkern entsteht kein Apfelbaum, sondern immer nur ein Kirschbaum. Die Verlässlichkeit und Stetigkeit der Abläufe ist für den mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin ein Beweis für die teleologische, also zielgerichtete Struktur der Natur. Der Scholastiker, geboren 1225, in dem Jahr, als der Sonnengesang gedichtet wurde, sieht darin das Wirken einer zweckvollen »Leitung«. »Also«, folgert er, »muß es notwendig ein Wesen geben, durch dessen Vorsehung (providentia) die Welt geleitet wird (mundus gubernetur)«. Auf das Wort governa stießen wir schon im Sonnengesang. Bei Thomas wird gubernatio (Lenkung, Leitung, Regierung) zu einem Schlüsselbegriff. Gott lenkt das Einzelne und das Ganze zur Verwirklichung aller Möglichkeiten, die darin angelegt sind. »Der Aufbau der Wirklichkeit«, kommentiert der Theologe Udo Krolzik, »ist also in dem Streben der Naturdinge begründet, das zu sein, was sie von Natur aus sind.« Conservatio ist kein Stillstand, kein statisches Bewahren. Werden und Entwicklung sind eingeschlossen. Die gubernatio verleiht diesem Prozess eine zielgerichtete Dynamik.
Im Luthertum erlebte die Providentia-Lehre eine letzte Blüte. Da »im Himmel und auff Erden«, predigte Martin Luther 1537, »alles so wunderbarlich, ordentlich und gewis« geregelt sei, müsse »ein einig, ewig Göttlich wesen sein, welches alle ding erschaffen, erhelt und regieret.« Luther glaubte an die Ubiquität, die Allgegenwart des Göttlichen. Allerdings habe sich die göttliche Präsenz in »alle Creaturen verkrochen und versteckt«. Diese Anschauung wurde zu einem starken Antrieb für die naturwissenschaftliche Forschung. Noch Linné, Spross einer Dynastie lutherischer Landpfarrer, suchte in der Natur den Fußabdruck Gottes. Luthers Gott ist nämlich »verborgen«. Seine Vorsehung ist ein Akt der Gnade. Sein Zorn ist deren unberechenbare Komponente.
Befiehl du deine wege / und was dein hertze kränkt / der allertreusten pflege / Deß, der den himmel lenckt: / Der wolken, lufft und winden / gibt wege, lauf und bahn, / Der wird auch wege finden / Da dein fuß gehen kann.
So erscheint Bruder Wind 1653 im Lied eines Berliner Predigers. Der berühmte Choral Paul Gerhardts, von Johann Sebastian Bach einige Jahrzehnte später in die Matthäus-Passion eingearbeitet, enthält in Kurzfassung die lutherische Lehre von der Vorsehung. »He’s got the whole world in his hand« – das Spiritual der protestantischen Schwarzen im amerikanischen Süden verkündet noch dieselbe Botschaft.
Conservatio est actio DEI externa, qua ex mera bonitate omnia, quae sunt, sustentat. Die Conservatio ist die nach außen gerichtete Tat Gottes, die aus reiner Güte alles, was da ist, erhält … Die Vokabeln conservatio und sustentare – Anklang an den Sonnengesang, Vorgriff auf den Nachhaltigkeitsdiskurs des 20. Jahrhunderts – finden sich in einem theologischen Traktat aus dem Jahre 1682. Sein Verfasser, Abraham Calov, galt als »Mathematiker der Religion« und Gralshüter der lutherischen Orthodoxie an der Universität zu Wittenberg. Seine Autorität reichte weit. Bis hinauf zu den Universitäten von Uppsala und Dorpat.