Die Globalisierung und der mit ihr verbundene industrielle Niedergang wirkten sich am stärksten in den von Schwarzen bewohnten Stadtvierteln aus. William Julius Wilson beschreibt in seinem Buch When Work Disappears, dass in den 1970er Jahren die überwiegende Mehrheit der Afroamerikaner über keinen College-Abschluss verfügte und segregierte, miserabel ausgestattete Schulen besucht hatte. Diese Menschen, die in den Gettos lebten, waren denkbar schlecht auf den gewaltigen Umbruch vorbereitet, den die Wirtschaft der USA erfuhr; sie wurden arbeitslos und im Stich gelassen. Laut einer Studie hatte noch Ende der 1970er Jahre mehr als 70 Prozent der Schwarzen, die in städtischen Gebieten berufstätig waren, einen Job als einfache Arbeiter.78 Doch schon 1987, als der Krieg gegen die Drogen so richtig in Fahrt gekommen war, waren nur noch 28 Prozent aller schwarzen Männer in der Industrie beschäftigt.79
Wenn in der Industrie in dieser Zeit Arbeitsplätze entstanden, dann zumeist in den Außenbezirken der Städte. Die wachsende räumliche Entfernung traf wiederum vor allem die Afroamerikaner: Nur 28 Prozent der schwarzen Väter in den Städten verfügten über ein Auto, von jenen, die in den Gettos lebten, nur 18 Prozent.80
Den Frauen erging es in dieser Zeit etwas besser, weil die Sozialdienste in den städtischen Gebieten – die hauptsächlich Frauen beschäftigen – zur selben Zeit, in der Industriearbeitsplätze verschwanden, einen Aufschwung erlebten. Der Anteil schwarzer Männer, die eine Stelle im Dienstleistungssektor ergatterten, etwa in Pflegeeinrichtungen oder in Büros, war hingegen vernachlässigbar.81
Der Rückgang an legalen Verdienstmöglichkeiten verstärkte bei den Bewohnern der Innenstädte den Anreiz, Drogen zu verkaufen. Das war meist Crack, pharmakologisch gesehen dasselbe wie Kokain, aber so aufbereitet, dass es verdampft und inhaliert werden kann, was zu einem intensiveren (und kürzeren) Rausch bei geringerem Verbrauch führt. So können kleinere Dosen zu einem attraktiveren Preis verkauft werden. Crack eroberte 1985 die Straßen, wenige Jahre, nachdem Reagan seinen Krieg gegen die Drogen verkündet hatte. Die neue Droge mischte den Markt völlig auf, was zu einer Welle von Gewalt führte. Hinzu kam die Frustration über die mangelnden Arbeitsplätze. Arbeitslosigkeit und Crack suchten die Innenstädte genau in dem Augenblick heim, als sich die erbitterte Gegenreaktion auf die Bürgerrechtsbewegung im Krieg gegen die Drogen formiert hatte.
Man sollte den Schaden, den Crack und die mit der Droge verbundene Gewalt anrichteten, gewiss nicht verharmlosen. David Kennedy bemerkte dazu ganz richtig: »Crack fegte durch die Viertel der armen Schwarzen wie die vier apokalyptischen Reiter«, die Droge hinterließ unaussprechliche Verheerung und Leid.82 Doch ein Land hat auch eine Wahl, wie es auf ein solches Problem reagiert. Anderswo setzte man eher auf Behandlung der Süchtigen, Prävention und Beratung oder half den vom Verbrechen geplagten Gemeinden durch Investitionen auf die Beine. In Portugal beispielsweise entschied man sich dafür, der Drogenproblematik durch Entkriminalisierung sämtlicher Drogen die Grundlage zu entziehen, und steckte das Geld, das man für die Inhaftierung der Drogenkonsumenten ausgegeben hätte, in Drogenbehandlung und Prävention. Zehn Jahre später konnte Portugal vermelden, dass sowohl der Drogenmissbrauch und die Zahl der Drogenkonsumenten als auch die Drogenkriminalität rückläufig waren.83
Viele Wege standen uns als Nation offen, der Crack-Krise zu begegnen. Doch aus Gründen der Rassenpolitik und weil sich damit besser Ängste schüren lassen, wählten wir Krieg. Die Konservativen hatten endlich einen Grund gefunden, hemmungslos gegen einen »Feind« zu Felde zu ziehen, den sie schon Jahre zuvor rassisch definiert hatten.
Und so ergriff die Regierung Reagan die Gelegenheit beim Schopf. Im Oktober 1985 ernannte die DEA Robert Stutman zum Direktor ihres New Yorker Büros und beauftragte ihn damit, die Unterstützung der Öffentlichkeit für den neuen Krieg der Regierung zu gewinnen. Stutman entwickelte eine Medienkampagne, um Journalisten für das Thema Crack in den Innenstädten zu interessieren. Jahre später berichtete Stutman so darüber:
Die Agenten sahen mich unzählige Male mit Medienvertretern sprechen, um ihre Aufmerksamkeit auf die Drogenplage zu lenken. Ich ließ keine Gelegenheit aus, die von ihr [der DEA] erzielten Fortschritte im Kampf gegen den Drogenhandel hervorzuheben. … Wenn ich Washington überzeugen wollte, dann musste ich sie [die Drogen] zu einem Problem nationaler Tragweite machen, und zwar schnell. Ich stürzte mich in Lobbyarbeit und nutzte die Medien. Die waren nur allzu bereit, mit mir zusammenzuarbeiten, denn zumindest in New York lieferte Crack die heißesten Frontberichte seit dem Ende des Vietnamkriegs.84
Diese Strategie trug Früchte. Im Juni 1986 erklärte Newsweek Crack zur größten Sache seit dem Vietnamkrieg und Watergate, und im August desselben Jahres nannte die Zeitschrift Time Crack »das Problem des Jahres«. Tausende Berichte über die Crack-Krise füllten den Äther und die Zeitungskioske, alle mit einem deutlich rassistischen Unterton. Die Artikel handelten üblicherweise von »Crack-Huren«, »Crack-Babys« und Bandenkriminalität und verstärkten das schon bestehende Klischee einer kriminellen schwarzen Subkultur, in der die Frauen als verantwortungslose, egoistische »Welfare Queens« und die Männer schlicht als »Raubtiere« dargestellt wurden.85 Als im Juni 1986 Len Bias und Don Rogers, zwei populäre Sportler, an einer Überdosis Kokain starben, brachten Journalisten ihren Tod zunächst irrtümlich mit Crack in Zusammenhang, was den Sturm in den Medien weiter anfachte, eine Welle politischer Aktionen auslöste und die Angst der Öffentlichkeit vor der neuen »Teufelsdroge« verstärkte. Bis 1989 schlachteten die Medien das Thema Crack aus, sprachen von einer »Epidemie« und »Seuche«, von einer Droge, die »unmittelbar süchtig« mache und außerordentlich gefährlich sei – irreführende, inzwischen längst widerlegte Behauptungen. Zwischen Oktober 1988 und Oktober 1989 brachte allein die Washington Post 1565 Artikel über die »Teufelsdroge«. Richard Harwood, der Ombudsmann der Washington Post, räumte schließlich ein, die »aufgeheizte Stimmung« hätte dazu geführt, dass sein Blatt »die Verhältnismäßigkeit« aus den Augen verloren hätte. »Politiker bescheißen die Menschen«, so sein Fazit.86 Ähnlich äußerten sich später die Soziologen Craig Reinarman und Harry Levine: »Crack war ein Geschenk des Himmels für die Rechte. … Politisch gesehen hätte es zu keinem günstigeren Zeitpunkt auftauchen können.«87
Im September 1986, als der Medienrummel in vollem Gange war, billigte das Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf, der zwei Milliarden Dollar für den Kreuzzug gegen die Drogen bereitstellte, die Teilnahme des Militärs an Drogenbekämpfungsmaßnahmen vorsah, die Todesstrafe für gewisse Drogenverbrechen genehmigte und in Drogenprozessen auch mit illegalen Mitteln beschaffte Informationen als Beweise zuließ. Noch im selben Monat schlug der Senat noch schärfere Gesetze vor. Kurz darauf unterzeichnete der Präsident den Anti-Drug Abuse Act von 1986. Neben anderen harten Maßnahmen sah das Gesetz Mindesthaftstrafen für den Handel mit Kokain vor, und zwar deutlich schärfere für das vor allem mit Schwarzen assoziierte Crack als für das klassische Kokain, das hauptsächlich von Weißen konsumiert wurde.
Während des Gesetzgebungsprozesses waren nur vereinzelt kritische Stimmen zu hören. Ein Senator äußerte die Ansicht, Crack sei ein Sündenbock, der die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den wahren Ursachen der sozialen Missstände ablenken solle: »Wenn wir Crack die Schuld an den Verbrechen geben, sind die Politiker aus dem Schneider. Vergessen sind dann die nicht funktionierenden Schulen, die miserablen Sozialprogramme, die heruntergekommenen Stadtviertel, die vergeudeten Jahre. An all dem soll nun Crack schuld sein. Fast schleicht sich der Gedanke ein, wenn es kein Crack gegeben hätte, dann hätte die Bundesregierung sicher ein Forschungsstipendium gestiftet, um es zu entwickeln.«88
1988 nahm sich der Kongress die Drogenpolitik erneut vor. Heraus kam eine noch einmal erheblich verschärfte Gesetzgebung, die nun weit über das traditionelle Strafrecht hinausgriff und ganz neue Strafen für Drogenvergehen einführte. Der erweiterte Anti-Drug Abuse Act sah vor, dass Mietern ihre Sozialwohnungen