Ohne eine breite Graswurzelbewegung wäre Jim Crow vielleicht heute noch quicklebendig. Doch in den 1950er Jahren entstand mit dem Rückenwind der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs und eines Wandels im nationalen und internationalen politischen Klima eine Bürgerrechtsbewegung. Unter großem persönlichem Einsatz organisierten Bürgerrechtsaktivisten und progressive Geistliche Boykotte, Protestmärsche und Sit-ins gegen das System von Jim Crow. Sie trotzten Wasserwerfern, Polizeihunden, Bombenanschlägen und den Prügeln des weißen Mobs und der Polizei. Wieder einmal mussten im Süden Soldaten anrücken, um die Schwarzen zu schützen, die versuchten, ihre Bürgerrechte auszuüben. Im Norden löste die gewalttätige Reaktion der weißen Rassisten Entsetzen aus.
Der dramatische Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung ereignete sich 1963. Aus dem friedlichen Kampf einer kleinen Gruppe schwarzer Studenten war die größte Massenbewegung für eine Reform der Rassenbeziehungen und der Bürgerrechte des 20. Jahrhunderts erwachsen. Zwischen Herbst 1961 und Frühjahr 1963 waren 20.000 Männer, Frauen und Kinder verhaftet worden. Allein im Jahr 1963 landeten weitere 15.000 im Gefängnis, und es kam zu 1000 Protestkundgebungen in mehr als 100 Städten der Region.32
Am 12. Juni 1963 kündigte Präsident Kennedy an, dass er dem Kongress ein starkes Bürgerrechtsgesetz vorlegen werde. Mit dieser Erklärung wurde er über Nacht zum weithin anerkannten Verbündeten der Bewegung. Nach der Ermordung von Kennedy übernahm Präsident Johnson das Ziel der »vollen Gleichstellung von mehr als zwanzig Millionen Negern in das amerikanische Leben« und sorgte für die Annahme entsprechender umfassender Gesetze. Der Civil Rights Act von 1964 beendete formell das Diskriminierungssystem von Jim Crow in öffentlichen Einrichtungen, am Arbeitsplatz, bei Wahlen, in Schulen und Universitäten sowie sämtlichen mit Bundesmitteln finanzierten Einrichtungen. Von noch größerer Bedeutung war womöglich der Voting Rights Act von 1965, da er zahlreiche Schranken für illegal erklärte, die die Afroamerikaner an einer wirksamen politischen Beteiligung hinderten, und eine Überprüfung sämtlicher zukünftiger Wahlrechtsänderungen durch den Bund auf Wahlrechtsdiskriminierung vorschrieb.
Fünf Jahre später waren die Auswirkungen der Bürgerrechtsrevolution schon deutlich zu spüren. Zwischen 1964 und 1969 nahm die Zahl der Afroamerikaner, die sich als Wähler registrieren ließen, sprunghaft zu. In Alabama stieg die Rate von 19,3 Prozent auf 61,3 Prozent, in Georgia von 27,4 Prozent auf 60,4 Prozent, in Louisiana von 31,6 Prozent auf 60,8 Prozent und in Mississippi von 6,7 Prozent auf 66,5 Prozent.33 Plötzlich konnten Schwarze in Warenhäusern einkaufen, in Restaurants gehen, Wasserspender benutzen und Vergnügungsparks besuchen, die ihnen einst verwehrt waren. Gesetze, die sexuelle Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe verboten, wurden als verfassungswidrig erklärt, und die Zahl der Eheschließungen zwischen Weißen und Schwarzen stieg.
Auf dem politischen und gesellschaftlichen Feld waren also große Fortschritte zu verzeichnen. Doch die Führer der Bürgerrechtsbewegung fürchteten zunehmend, dass die große Mehrheit der Schwarzen ohne einschneidende Wirtschaftsreformen weiterhin in Armut leben würde. Folglich wandten sie die Aufmerksamkeit mehr und mehr den wirtschaftlichen Problemen zu. Die Wechselwirkung zwischen sozioökonomischer Ungleichheit und Rassismus, so argumentierten sie, führe zu lähmender Armut und damit zusammenhängenden sozialen Schwierigkeiten. »Unter den Schwarzen wuchs die Unzufriedenheit mit ihrer Lage – nicht nur, weil sie eine unterdrückte ethnische Minderheit in einer weißen Gesellschaft, sondern auch, weil sie arm in einer wohlhabenden Gesellschaft waren.«34 Mit Boykotten, Streiks und Demonstrationen versuchte man auf die Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und die insgesamt schlechten wirtschaftlichen Chancen der Schwarzen aufmerksam zu machen.
Die größte Demonstration für mehr wirtschaftliche Gerechtigkeit war sicherlich der Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit Ende August 1963. Die Welle des Protests veranlasste Präsident Kennedy, genauer auf Armut und schwarze Arbeitslosigkeit zu schauen. Im Sommer 1963 ließ er eine Reihe von Studien zu diesen Themen erstellen und erklärte die Beseitigung der Armut zu einem der Hauptziele des Jahres 1964.35 Nach Kennedys Ermordung übernahm Präsident Johnson mit großem Engagement diese Verpflichtung. In seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 1964 rief er einen »bedingungslosen Krieg gegen die Armut« aus. Einige Wochen später schlug er dem Kongress die Economic Opportunities Bill vor.
Diese Schwerpunktverlagerung näherte die Ziele der Bürgerrechtsbewegung jenen der weißen Unterschicht an, die ebenfalls ökonomische Reformen forderte. Damit begann die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung zu einer »Bewegung der Armen«, die versprach, nicht nur gegen die Armut der Schwarzen, sondern auch gegen die der Weißen zu kämpfen – was das Gespenst einer Solidarisierung der Benachteiligten über alle Rassengrenzen hinweg heraufbeschwor. Martin Luther King und andere Führer der Bürgerrechtsbewegung erklärten die Beseitigung von Armut zum nächsten großen Ziel einer »Menschenrechtsbewegung«. Eine wirkliche Gleichberechtigung der Schwarzen erforderte nach King einen radikalen Umbau der Gesellschaft, der die Bedürfnisse der schwarzen und weißen Armen im ganzen Land berücksichtigte. Kurz vor seiner Ermordung arbeitete er noch an Plänen für eine Großdemonstration in Washington, zu der sich in einer alle Rassen übergreifenden Allianz Schwarze vom Land und aus den Gettos, Weiße aus den Appalachen, Amerikaner mexikanischer Herkunft und Puerto Ricaner sowie Ureinwohner zusammenschließen sollten, um Arbeit und Einkommen zu fordern – kurz, das Recht zu leben. In einer Rede im Jahr 1968 erkannte King an, dass das Bürgerrechtsgesetz von 1964 zu Fortschritten geführt habe, betonte aber, dass es weitere Herausforderungen gebe, die noch mehr Entschlossenheit verlangten, und sich die gesamte Nation wandeln müsse, wenn ökonomische Gerechtigkeit für Arme jeglicher Hautfarbe mehr als bloß ein Traum sein solle. »King verfolgte nicht weniger als eine radikale Umwandlung der Bürgerrechtsbewegung in einen Kreuzzug des Volkes zur Umverteilung der ökonomischen und politischen Macht. Amerikas einziger Bürgerrechtsführer konzentrierte sich nun auf die Klassenfragen und plante, mit einer Armee der Armen nach Washington zu marschieren, um die Fundamente der Macht zu erschüttern und die Regierung zu zwingen, auf die Bedürfnisse der vernachlässigten Unterschicht einzugehen.«36
Die Bürgerrechtsbewegung und der Start der Poor People’s Campaign hatten die tiefen Gräben in der amerikanischen Gesellschaft offensichtlich gemacht. Doch wieder einmal standen die Schwarzen nur einen »kurzen Augenblick in der Sonne«. Konservative Weiße begannen bald, nach einer neuen, an die Zeit angepassten Rassenordnung zu suchen. Klar war nur, dass diese Ordnung formal rassenneutral sein musste – die Rassendiskriminierung durfte weder explizit noch allzu durchsichtig sein. Da der ausdrückliche Bezug auf die Hautfarbe verboten war, mussten die Vertreter einer Rassenhierarchie nach Wegen suchen, die den neuen Spielregeln der amerikanischen Demokratie entsprachen.
Die Geschichte zeigt, dass die Grundlagen des neuen Kontrollsystems lange vor dem Ende der Bürgerrechtsbewegung geschaffen worden waren. Die neue rassenneutrale Sprache appellierte an die alten rassistischen Gefühle und wurde nun von einer politischen Bewegung aufgegriffen, der es schließlich gelang, die große Mehrheit der Schwarzen an ihren alten Platz zu verweisen. Die Verfechter einer Rassenhierarchie fanden heraus, wie sie ein neues rassisches Kastensystem etablieren konnten, ohne das Gesetz oder die neuen Grenzen des akzeptierten politischen Diskurses zu verletzen: Indem sie statt »Rassentrennung für immer« die neue Parole »Recht und Ordnung« ausriefen.
Die Entstehung der Masseninhaftierung
Die Rhetorik von »Recht und Ordnung« wurde zuerst in den 1950er Jahren bemüht, als in den Südstaaten Gouverneure und Gesetzeshüter versuchten, den Widerstand der Weißen gegen die Bürgerrechtsbewegung zu mobilisieren. In den Jahren nach der Grundsatzentscheidung Brown v. Board of Education übte die Bürgerrechtsbewegung im Süden durch direkte Aktionen Druck aus, um die Aufhebung der Rassentrennung durchzusetzen. Ihre Gegner bezeichneten diese Aktionen als kriminell und behaupteten, der Erfolg der Bürgerrechtbewegung sei ein Indiz für den Verfall von Recht und Ordnung. Jegliche Unterstützung der Bürgerrechtsgesetzgebung galt den Konservativen im Süden als »Belohnung von Gesetzesbrechern«.
Mehr als ein Jahrzehnt lang – von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre – verbargen die Konservativen ihren Widerstand gegen die Bürgerrechtsgesetzgebung hinter