Um 1775 hatte sich das System der Schuldknechtschaft endgültig zu einem rassistischen Kastensystem gewandelt, das auf Sklaverei beruhte. Den niedrigen Status der Afrikaner rechtfertigte man mit der Behauptung, die »Neger« gehörten einer unzivilisierten, niedrigeren Rasse an, genau wie die Indianer, womöglich schrieb man ihnen noch geringere Intelligenz und menschliche Qualitäten zu als den Ureinwohnern. Die Behauptung der Überlegenheit der Weißen rationalisierte die Versklavung der Afrikaner und verschleierte den Widerspruch, dass eben jene Weißen ein neues Land auf den Idealen von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit für alle aufzubauen versuchten. Vor der Demokratie wurde die Sklaverei in Amerika geboren.
Die Bedeutung des Rassegedankens für die Grundstruktur der amerikanischen Gesellschaft kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Aufbau und Inhalt der ursprünglichen Verfassung sind wesentlich von dem Bemühen geprägt, ein rassisches Kastensystem – die Sklaverei – aufrechtzuerhalten und den Weißen, allen voran den begüterten Weißen, politische und wirtschaftliche Rechte zu gewähren. Die Sklavenhalterkolonien im Süden wollten der Union nur beitreten, wenn die Bundesregierung in Washington ihr Recht auf Sklavenbesitz unangetastet ließ. Die Eliten im Norden hatten ein offenes Ohr für diese Forderung nach »Eigentumsrechten«, denn auch sie wollten von der Verfassung Garantien für ihr Eigentum. James Madison erklärte, die Union solle »die Minderheit der Wohlhabenden vor der Mehrheit schützen«.9 Die Folge war, dass die Verfassung so angelegt wurde, dass die Bundesregierung schwach war, nicht nur in Bezug auf Eigentumsfragen, sondern auch gegenüber den einzelnen Bundesstaaten, denen große Freiheiten bei der Regelung ihrer Angelegenheiten eingeräumt wurde. Die Verfassung vermeidet bewusst jeden Bezug auf Hautfarbe (die Worte Sklave oder Neger sucht man darin vergebens), dennoch stellt das Dokument einen Kompromiss dar, der dem Erhalt des herrschenden rassischen Kastensystems diente. Der Föderalismus – die Teilung der Macht zwischen den Bundesstaaten und der Bundesregierung – war das Mittel der Wahl, um die Institution der Sklaverei und die politische Macht der Sklavenhalterstaaten zu bewahren. Sogar die Methode zur Bestimmung der proportionalen Vertretung der einzelnen Bundesstaaten im Kongress und im Wahlmännergremium für das Präsidentenamt war auf die Interessen der Sklavenhalter zugeschnitten: Das Gründungsdokument legte fest, Sklaven zur Bevölkerungszahl der Staaten hinzuzuzählen, wenn auch nicht als vollwertige Personen, sondern sozusagen als »Drei-Fünftel-Menschen«. Diese rassistische Fiktion bildet das Fundament der gesamten amerikanischen Demokratie.
Das Ende der Sklaverei
Wäre die Idee, dass es Rassen von Menschen gibt, mit der Sklaverei untergegangen, hätte das Ende des amerikanischen Bürgerkriegs auch das Ende des rassischen Kastensystems in den USA bedeutet. Aber in vier Jahrhunderten Sklaverei hatte sich der Rassegedanke in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Und so überlebte die Ideologie ungleicher Rassen – und insbesondere die der grundsätzlichen Überlegenheit der weißen Rasse – die Institution, die sie überhaupt erst hervorgebracht hatte.
Die Behauptung der natürlichen Überlegenheit der Weißen wurde mit der Zeit zu einem quasi religiösen Glauben, der die Afrikaner eher auf der Stufe von Tieren sah. In diesem Denken war die Sklaverei letztlich eine Einrichtung zum Besten der Schwarzen. Das beruhigte das Gewissen der Sklavenhalter und löste den Widerspruch zwischen der Sklaverei und den demokratischen Idealen auf, die die Weißen in der sogenannten Neuen Welt propagierten. Wenn die Afrikaner eigentlich gar keine richtigen Menschen waren, geriet Thomas Jeffersons kühne These, dass »alle Menschen gleich geschaffen« seien, nicht in Widerspruch zur Sklaverei. Der Rassismus bildete ein tief verwurzeltes Glaubenssystem, das sich auf »Wahrheiten« stützte, die nicht hinterfragt oder angezweifelt wurden. Dieser Glaube rechtfertigte ein wirtschaftliches und politisches System, in dem die Plantagenbesitzer Land und Reichtümer durch Brutalität, Folter und Zwang erwarben. »Die Schranke zwischen den Rassen war eine Folge, nicht eine Bedingung der Sklaverei, aber sobald sie einmal etabliert war, löste sie sich von ihrer ursprünglichen Funktion ab und entfaltete ihre eigene gesellschaftliche Wirksamkeit.«10
Das Konstrukt der Rassen überlebte das Ende der Sklaverei.
Einer der aufschlussreichsten Berichte über die Zeit nach der Emanzipations-Proklamation ist The Strange Career of Jim Crow von C. Vann Woodward aus dem Jahr 1955.11 Martin Luther King bezeichnete das Buch, bis heute ein Standardwerk zu diesem Thema, als die »historische Bibel der Bürgerrechtsbewegung«. Woodward zufolge stellte das Ende der Sklaverei die weiße Gesellschaft des Südens vor enorme Probleme. Ohne die Arbeitskraft der ehemaligen Sklaven drohte der Wirtschaft der Region der sichere Zusammenbruch, und ohne die Institution der Sklaverei gab es formell nichts mehr, was die rassische Hierarchie erhalten und die »Verschmelzung« der Weißen mit einer Gruppe verhindert hätte, die ihrem Verständnis nach minderwertig war. Diese Situation hatte fast anarchische Zustände und eine Stimmung an der Grenze zur Hysterie zur Folge, besonders unter der Elite der Plantagenbesitzer. Doch auch für die armen Weißen war der Zusammenbruch der Sklaverei eine bittere Pille. Selbst der Geringste unter ihnen besaß in den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg immer noch seine weiße Haut – ein Zeichen der Überlegenheit auch gegenüber einem noch so qualifizierten Sklaven oder wohlhabenden freien Afroamerikaner.
Während die Weißen der Südstaaten, ob arm oder reich, zutiefst empört waren über die Emanzipations-Proklamation, gab es doch keine eindeutige Lösung für das Dilemma, mit dem sie sich konfrontiert sahen. Der Bürgerkrieg hatte die wirtschaftliche und politische Infrastruktur des Südens zerstört. Die Plantagenbesitzer standen auf einen Schlag mittellos da, die Südstaaten brachen unter der Last von Kriegsschulden zusammen. Zahllose Gebäude und andere Besitztümer waren durch den Krieg zerstört worden, die Industrie lag am Boden, Hunderttausende Männer waren gefallen oder kamen als Kriegsversehrte zurück. Zu all dem gesellte sich die depressive Stimmung eines verlorenen Kriegs und die ungeheure Herausforderung des Wiederaufbaus. Die vier Millionen auf einen Schlag befreiten Sklaven verkomplizierten die Lage zusätzlich. Die Weißen des Südens, so Woodward, waren fest davon überzeugt, dass ein neues System der Rassenkontrolle vonnöten war – aber es war nicht unmittelbar klar, wie es aussehen sollte.
Während der Sklaverei wurde die Rassenhierarchie sehr effektiv durch den engen Kontakt zwischen den Sklavenhaltern und den Sklaven aufrechterhalten. Damit wurde ein Höchstmaß an Überwachung und Disziplinierung gewährleistet und das Potenzial für aktiven Widerstand und Rebellion minimiert. Eine strikte Trennung der Rassen hatte weder im Interesse der Sklavenhalter gelegen, noch war sie nötig gewesen, um die soziale Distanz zu den Sklaven zu wahren.
Nach dem Bürgerkrieg wusste zunächst niemad, welche Institutionen, Gesetze oder Konventionen nötig waren, um die weiße Vorherrschaft auch ohne Sklaverei aufrechtzuerhalten. Doch dass die meisten Weißen in den Südstaaten leidenschaftlich nach einer neuen Rassenordnung suchten, darin sind sich die Historiker einig. Gerüchte über einen bevorstehenden großen Aufstand versetzten die Weißen in Schrecken, und Schwarze wurden zunehmend als bedrohlich und gefährlich gesehen. Das noch immer herrschende Stereotyp des schwarzen Mannes als aggressives und wildes Raubtier kann bis in diese Zeit zurückverfolgt werden, in der Weiße fürchteten, eine wütende Masse schwarzer Männer könnte rebellieren und sie angreifen oder ihre Frauen vergewaltigen.
Ebenso besorgniserregend war der Zustand der Wirtschaft. Die befreiten Sklaven verließen in Scharen die Plantagen, was unter den Pflanzern Empörung und Panik auslöste. In den ersten Nachkriegsjahren zogen Sklaven in großer Zahl über die Landstraßen.