Was die Akteure des Cybercrime eint, ist nicht nur eine Besessenheit von Technologie. Es ist die Liebe zum Geld und ein äußerst flexibler moralischer Kompass. »Wenn der Admin nun umsatteln würde und CNW der Waffenhandel Nr. 1 in Deutschland sein würde … ich würde lügen, würde ich sagen, ich wäre nicht dabei«, sagt Neil.23 Er zögert. »Ich habe, wie ein großer Teil der Fraudszene, einen psychischen Schaden.« Viel weiter kommt er in seiner Analyse aber nicht. »Auf der einen Seite schreibt mir eine alleinerziehende Mutter E-Mails: ›Wie soll ich jetzt die ganzen Rechnungen bezahlen?‹, und ich schreib zurück: ›Sieh zu wie du klarkommst‹24, auf der anderen Seite bin ich absolut loyal gegenüber dem Admin des Forums – ja, da ist schon ein Widerspruch.«
Die Boards sehen unsere Quellen auch als Sprungbrett ins Darknet, wo es noch mehr Geld zu verdienen gibt. Schließlich sind Darknet-Märkte beliebte Handelsplätze für verbotene Substanzen, geklaute Daten und andere CaaS-Puzzleteile. Immer wieder machen sich einzelne Mitglieder von CNW mit eigenen Geschäften selbstständig – ganz besonders, wenn es um Online-Drogenverkauf geht. Zuletzt ging der internationale Drogenshop Chemical Revolution (CR) aus Crimenetwork hervor. An dem soll auch Neils Boss Sicario beteiligt gewesen sein. Die Hauptverdächtigen kannten sich von Crimenetwork und hatten von dort Betrugswebsites mit Ferienwohnungen aufgezogen, die es nicht gab.
2017 gegründet, verkaufte CR im Clearnet, im Darknet und auf dem Darknet-Kryptomarkt Wall Street Market in einem Jahr Drogen im Wert von zwei Millionen Euro. Die Ermittlungen des BKA stockten lange, doch dann gelang es der Polizei, einen Überläufer zu finden. Er identifizierte einen 26-jährigen Münchner, der mittlerweile auf Mallorca lebte, als Kopf der Bande. Am 28. Mai 2019 nahmen die Behörden den Mann bei der Wiedereinreise aus Mallorca fest.25 So gelang es, Chemical Revolution zu zerschlagen. Elf Verdächtige wurden festgenommen, die Server abgeschaltet und sichergestellt.26
Neil ist »zu hundert Prozent« überzeugt, dass es sich dabei um seinen ehemaligen CNW-Boss Sicario handelt. »Er hätte nie mit dem Drogenshop anfangen sollen«, erzählt er Ende August 2019.27 »Nun haben inigo und ich seit knapp drei Monaten das Baby in unseren Händen und ich merke bei jeder monatlichen Abrechnung, wie ich mehr will – obwohl ich pro Monat mit meiner aktuellen Beteiligung über 10.000 Euro als Gewinn verbuchen kann.«28 Der Prozess gegen Chemical Revolution ist für den Sommer 2020 angesetzt und verspricht ein Spektakel zu werden: Weil es in Gerichten keinen Saal gibt, der genug Kapazität für alle Beteiligten hat, wird die Verhandlung vermutlich in einer Kongresshalle abgehalten.29
Im Sommer 2020 stellt sich heraus, dass Neil recht hatte. »Heute hat’s gekracht. Aber nicht bei mir«, schreibt er mir am 23. Juni. Mit »gekracht« meint er eine bundesweite Razzia.30 gegen Crimenetwork-Tatverdächtige, an der 1.400 Polizisten beteiligt waren und 32 Personen vorläufig festgenommen wurden. Einen früheren, 26-jährigen Administrator des Forums, heißt es in der Pressemitteilung zum »Action Day«, habe man am 28. Mai 2019 bei der Einreise nach Deutschland bereits festgenommen. Neil weiß mittlerweile auch, dass die Behörden die Datenbank des Forums im vergangenen Jahr ergattert und gespiegelt haben – »alle Threads, alle Privatnachrichten«, schreibt er. Er macht trotzdem weiter.
Auch die Protagonisten unseres nächsten Kapitels haben CNW als Hochschule für eine Karriere in millionenschweren Darknet-Geschäften besucht. Sie haben Chemical Revolution gezeigt, dass so etwas überhaupt möglich ist. So wie ein junger Programmierer namens Statine: Er schlug sich mit kleinen illegalen Jobs rund um Phishing und gestohlene Kreditkarten durch, bis er eine schicksalhafte Bekanntschaft auf dem CNW macht, die sein Leben verändern sollte. Sie führt ihn weg von billigen Abzock-Methoden mitten in den organisierten Darknet-Drogenhandel, der organisch auf den Foren mitgewachsen war.
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