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In Pulli und Jeans sitzt Mario Rönsch auf dem braunen Polster der Anklagebank, ein Waffenschmuggler im ›casual look‹, eingerahmt von zwei Anwälten, die ihn verteidigen. Im Gegensatz zu seinen Auftritten in Internetclips, wo er wie ein Getriebener den völkischen Aufstand beschwört, wirkt Rönsch im Verhandlungssaal des Berliner Landgerichts ruhig, fast friedlich. Was soll er auch machen.
Mario Rönsch sitzt hier, weil er einen illegalen Waffenshop betrieb und Hunderte Deutsche mit Gaspistolen und Langwaffen versorgte. Migrantenschreck nannte er seine Plattform, die wenig Zweifel ließ, welchen Zweck die Waffen hatten: »60 Joule Mündungsenergie strecken jeden Asylforderer nieder«, lautete der Werbetext für einen Revolver. Gegen »Ficki-Ficki-Fachkräfte und rotzfreche Antifanten«, ein anderer. Im Netz lud er martialische Videos hoch, auf denen ein Typ mit doppelläufiger Flinte einem Pappkameraden mit schwarzer Hautfarbe ein faustgroßes Loch in die Schulter schießt. An anderer Stelle feuert ein Vermummter Hartgummiprojektile auf Poster deutscher Politiker.
In einer Zeit, als der Waffenmarkt im Darknet mit Turbulenzen kämpfte, etablierte sich Migrantenschreck als bequeme Alternative für Menschen, denen das Darknet zu kompliziert war und eine echte Schusswaffe zu heikel. Die Hartgummiknarren aus Rönschs Migrantenschreck-Arsenal waren trotzdem gefährlich. Auch sie hätten ein Leben beenden können.
Bevor ich Rönsch im Gerichtssaal wiedersehe, stand ich vor seiner Wohnung in Budapest. Ein schicker Altbau im vornehmen Viertel Pasarét. Der Rechtsextreme betrieb seinen illegalen Waffenhandel von dort aus, bis ihn im März 2018 ungarische Spezialkräfte in Abstimmung mit der Berliner Staatsanwaltschaft hochnahmen. Rönsch sagte bei seiner Festnahme, das »Merkel-Regime« sei für ihn nicht zuständig. Nach Deutschland ausgeliefert wurde er trotzdem.
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Das Darknet hat die Art und Weise revolutioniert, wie Menschen an verbotene Güter kommen. Ein Gramm Speed, eine Glock 17, ein Imitat einer Breitling-Uhr, ein gefälschter Pass der Bundesrepublik Deutschland – oft genügen wenige Klicks, um den Deal einzutüten. Gezahlt wird in Bitcoin, Monero oder Zcash, pseudonyme Kryptowährungen, ohne die das kommerzielle Darknet nicht vorstellbar wäre. Nie war es so einfach und bequem, beim Shopping gegen das Gesetz zu verstoßen, nie war die Schwelle so niedrig, selbst Anbieter zu werden. Der Schwarzmarkt ist heute Mainstream.
Cyberkriminalität
Das Darknet hat die Struktur und Strategien der kriminellen Unterwelt auf den Kopf gestellt: Vielleicht zum ersten Mal sucht man das Licht der Öffentlichkeit, bietet Cyberattacken, Handgranaten und Toxine in offen zugänglichen Marktplätzen an, feilscht um Rabatte und gutes Feedback. Offline-Dealer verwenden viel Geld und Zeit darauf, ihr Treiben von neugierigen Blicken abzuschotten: Lieferrouten, Produktpalette und Geldflüsse waren seit jeher gut geschütztes Geheimwissen von Eingeweihten.
Heute sitzt man in der Jogginghose am Laptop und klickt sich durch die bunten Angebote der eBay- und Amazon-Klone im Darknet, legt das verbotene Produkt in den Warenkorb und geht zum Check-out. Auch wenn die Identität von Verkäufer und Käufer verborgen bleibt, haben Außenstehende einen nie da gewesenen Einblick in die Architektur der digitalen Schattenwirtschaft. Kunden nutzen Bewertungen zur Kauforientierung, Ermittler können Händler, Listings und Stückzahlen studieren, manchmal sogar Lieferwege und Geldflüsse.
Wir recherchieren seit fünf Jahren in der illegalen Halbwelt des Darknets und Clearnets. In diesem Buch erzählen wir die großen Kriminalfälle der letzten Jahre: ein Student aus der fränkischen Provinz, der Maschinenpistolen und Munition bis nach Australien exportierte; ein 18-Jähriger, der aus seinem Kinderzimmer ein millionenschweres Drogenimperium hochzog, ein Rechtsradikaler, der in einem »Forum gegen Meinungskontrolle« eine Pistole erwarb und damit neun Menschen ermordete, vier Männer aus Deutschland, die eine gigantische Kinderporno-Plattform betrieben.
Anhand von internen Dokumenten, Gerichtsakten, Interviews und verschlüsselten Chatnachrichten zeigen wir, wie das deutsche Darknet und seine ›prominenten‹ Protagonisten ticken. Es sind Geschichten über Gier und die Hoffnung auf schnellen Reichtum, über Cyberkriminelle, die am Laptop Millionen verdienen, und über politisch Verfolgte, für die das Darknet eine Frage von Freiheit oder Knechtschaft ist.
In der Öffentlichkeit genießt das Darknet keinen guten Ruf: Für viele ist es eine Projektionsfläche für alles Verkommene im Netz. Auch wenn die meisten Straftaten im Internet, nicht im Darknet begangen werden. Andere sehen es als den letzten Hort von Anarchie und Freiheit in der vollends überwachten Welt. Doch das Darknet an sich ist weder verkommener noch anarchistischer als das Internet, sondern eine Technologie, die, frei nach Habermas, ethisch unmusikalisch ist – sie kann kein Urteil fällen. Sie ist per se weder gut noch schlecht, sondern abhängig von den Menschen, die sie einsetzen. Eine saubere Trennung zwischen einem angeblich »guten« Internet und einem »bösen« Darknet wäre, wie im Verlauf des Buches deutlich wird, falsch und irreführend.
Das Darknet ist nicht die Lösung, sondern das Problem
Dass das Darknet von Kriminellen genutzt wird, sagt erst mal wenig. Tatsächlich ist dieses technologisch abgeschirmte Parallelnetz auch eine Reaktion auf Fehlentwicklungen im Internet. Das einst revolutionäre Versprechen des Netzes, die Welt zu einem besseren, freieren Ort zu machen, droht zu verpuffen. Geheimdienste überwachen große Teile des Internets. Datenkonzerne wie Amazon und Google schürfen immer tiefer in unserer Privatsphäre, erschaffen immer präzisere virtuelle Abbilder von uns. Sie kennen unsere Vorlieben, Ziele und Geheimnisse, formen daraus Werbeanzeigen oder verkaufen sie an Datenhändler. Im datengetriebenen Kapitalismus sind wir nicht mehr die Kunden der großen Plattformen, sondern ihre Produkte.
Das freie Netz ist heute, am Beginn der 2020er-Jahre, auch von anderer Seite bedroht. Weltweit arbeiten Staaten wie Russland und Iran an technischen Lösungen für ein nationales, vom globalen Internet abgekapseltes Netz, um Nutzer leichter kontrollieren zu können. Die Kommunistische Partei Chinas hat mittels Big Data und künstlicher Intelligenz den größten Überwachungs- und Kontrollapparat der Menschheitsgeschichte erschaffen. Und seit Edward Snowden wissen wir bereits seit Jahren von der Massenüberwachung durch westliche Geheimdienste.
Als Reaktion auf die beschleunigte digitale Landnahme durch Behörden und Konzerne ist das Bedürfnis nach Anonymität im Netz stetig gewachsen. Das Tor-Netzwerk, die prominenteste Darknet-Technologie, erfreut sich in der Bundesrepublik immer stärkerer Beliebtheit. Fast jeder zehnte Tor-Nutzer im vergangenen Jahr kam aus Deutschland.1 Kaum eine Anonymisierungssoftware bietet besseren Schutz beim Surfen. Doch ob das Darknet eine adäquate Antwort auf diese Herausforderungen ist oder ob es nicht vielmehr ein Problem sichtbar macht, statt eine Lösung zu bieten – auch darum wird es auf den folgenden Seiten gehen.
Was ist das Darknet?
Die Infrastruktur des Internets lässt sich grob in drei Bereiche einteilen: Das Clearnet, Clear Web oder auch Surface Web2 bezeichnet den öffentlich zugänglichen Teil des Internets, der sich mit herkömmlichen Webbrowsern erkunden lässt. Shoppingportale, Newsseiten, Streaminganbieter, Gamingplattformen – es ist der Teil des Netzes, den die meisten Menschen täglich nutzen. Das World Wide Web, der bekannteste Dienst im Clearnet, zählt mittlerweile fast zwei Milliarden Websites.3 Die Inhalte im Clearnet werden von Suchmaschinen indexiert und lassen sich daher relativ einfach finden.
Für das Deep Web gilt das nicht: Dort befinden sich Inhalte, die sich den Suchalgorithmen von Google oder Bing verweigern. Einen Teil des »tiefen Webs« kann man dennoch ansteuern – wenn man die genaue Browseradresse kennt. Ein Großteil des Deep Web ist jedoch geschützt: Das können Datenbanken von Universitäten