Zum Buch
2020. Die Freiräume im Internet verschwinden und das anonyme Darknet gilt als eines der letzten Refugien. Wer bewegt sich in der digitalen Unterwelt, wem nützt es – davon berichtet dieses kenntnisreiche und spannend erzählte Buch.
Seit Jahren verfolgen Daniel Mützel und Theresa Locker die Aktivitäten im Darknet. Sie tauchen ein in die verborgenen Winkel der digitalen Unterwelt und erzählen die großen Kriminalfälle, die aus dem dunklen Netz ans Licht gekommen sind: von einem Studenten aus der deutschen Provinz, der Waffen und Munition bis nach Australien verschiffte, vom 19jährigen »Kinderzimmerdealer«, der ein millionenschweres Drogenimperium hochzog, von einem Rechtsradikalen, der in einem »Forum gegen Meinungskontrolle« eine Pistole erwarb und damit neun Menschen ermordete, von vier Männern, die Deutschlands größte Kinderporno-Plattform betrieben. In spannenden und akribisch recherchierten Reportagen erzählen Mützel und Locker von einer neuen Generation von Cyberkriminellen, die am Laptop Millionen verdienen, und von Dissidenten, für die das Darknet eine Frage von Freiheit oder Folter ist. Und sie machen deutlich, warum – trotz des Ansturms der neuen Internetkriminellen – das Darknet für eine offene Gesellschaft unverzichtbar ist.
Über die Autoren
Daniel Mützel ist freier Reporter. Seine Artikel, Radio- und Videobeiträge erscheinen u.a. bei VICE, Tagesspiegel, Süddeutsche Zeitung, taz, Deutsche Welle, tagesschau.de und Die Welt. Er lebt und schreibt in Berlin und Unterfranken.
Theresa Locker ist Technologie-Redakteurin und verantwortet nach Zwischenstopps bei der Tagesschau und der Deutschen Welle investigative Recherchen bei VICE Deutschland. Sie lebt in Berlin.
Daniel Mützel | Theresa Locker
REPORT DARKNET
Verlag Antje Kunstmann
INHALT
1. Freiheit oder Finsternis [D. Mützel]
2. Cybercrime-Foren in Deutschland: Das Berufsnetzwerk für Darknet-Täter [T. Locker]
3. Die Geschichte von Shiny Flakes [T. Locker]
4. Die Geschichte von Chemical Love [T. Locker]
5. Kalaschnikow und Kryptogeld: Der Aufstieg der Darknet-Waffenhändler [D. Mützel]
7. Wutbürger im Waffenrausch [D. Mützel]
8. Dissidenten im Darknet [D. Mützel]
9. Die Geburt des Darknets aus dem Geist der Cyberanarchisten [D. Mützel]
10. Der Kampf gegen Kinderpornografie im Darknet – und warum der Begriff nicht passt [T. Locker]
11. Ausblick: Das Darknet als negative Freiheit [D. Mützel]
1. FREIHEIT ODER FINSTERNIS
Auf den ersten Blick sieht der Brief nicht aus, als käme er von einem verurteilten Waffenhändler: Blaue Luftblasen schmücken den Briefkopf, unten schwimmt ein Fisch mit Glubschaugen über den Meeresboden. Er will reden, schreibt er, aber er darf nicht. Sein letztes Schreiben, dem er einen Besucherschein beigelegt hatte, wurde von der Gefängnisleitung zurückgehalten. »Anscheinend befürchtet man Kritik.«
Der Verfasser des Briefes heißt Philipp K. Vier Jahre zuvor, im Mai 2016, hatte K. einem 18-Jährigen im Darknet eine Pistole verkauft, der damit neun Menschen erschoss. Die Opfer hatten alle einen Migrationshintergrund, die meisten von ihnen gingen noch zur Schule.
Das Münchner OEZ-Attentat am 22. Juli 2016 war eines der schwersten politischen Verbrechen der jüngeren deutschen Geschichte, für das jedoch nicht nur der rechte Attentäter David S. die Verantwortung trägt: Den Abzug drücken, das Schmieden seines Plans, sein Hass auf Migranten – das alles war S.’ alleiniges Tun. Doch es gab Menschen, die ihm die Tat erst ermöglichten: ein Forenbetreiber, der Waffenfreaks aus ganz Deutschland eine Plattform bot und rechte Umtriebe im Forum duldete; eine Darknet-Community, die den Handel mit Feuerwaffen mal als harmlosen Freizeitspaß abtat, mal als rebellischen Akt gegen den Überwachungsstaat feierte; und den Waffenhändler Philipp K., der von der großen Schmugglerkarriere träumte und David die Tatwaffe verkaufte.
K. schreibt, seine »Naivität« und »Scheißegal-Haltung« seien schuld, dass der Anschlag passieren konnte. Doch das erfasst nicht die Dimension des Falls. In zwei Gerichtsverfahren versuchte man, das Verbrechen zu rekonstruieren, suchte nach möglichen Komplizen des Attentäters, stritt um Anträge und geheime Akten, es flogen Stühle im Gerichtssaal, Drohungen wurden ausgesprochen. Den Hinterbliebenen blieben am Ende nur Trauer, Wut und die bis heute nicht geklärte Frage, warum K. so lange seinen Geschäften nachgehen konnte und die Behörden nicht früher einschritten.
***
»Bevor ich hier reingehe, werf’ ich mich vor einen Zug«, Neil* nippt an seiner Cola und zeigt auf die dicken Mauern der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit, an der wir vorbeilaufen.
Die vier Meter hohen Gefängnismauern mit der Natodrahtkrone wirken in der Dunkelheit ein wenig Furcht einflößend, vor allem für jemanden wie Neil, der nach bestehender Rechtslage eigentlich drinnen sitzen müsste. Der junge Mann arbeitet in der wachsenden Branche Cybercrime, die in Deutschland pro Jahr rund 60 Millionen Euro Schaden verursacht.
Für den mittlerweile abgeschalteten Online-Drogenshop »Webdealer« hatte er die Seite designt und wurde prozentual am Drogengeschäft beteiligt. Für sein aktuelles Projekt, den größten deutschen Online-Schwarzmarkt Crimenetwork (CNW), zieht er als technischer Admin die Fäden im Hintergrund. CNW ist der Platzhirsch der Szene: Gehandelt werden Falschgeld, geklaute Kreditkarten, Erpressungstrojaner, Drogen, Services für SMS-Bomben und Telefonterror. Das Board ist riesig und konkurrenzlos, unterhält Dependancen im Darknet und Clearnet. Die Deals laufen seit Jahren in aller Öffentlichkeit ab, die Polizei kommt bis heute nicht an die Hintermänner heran.
Während wir die Knastmauern entlangschlendern, erzählt Neil von seiner Ex, die ihn für einen Anabolika-Dealer aus dem Fitnessclub verlassen hat, von der ganzen Kohle, die ihn nicht glücklich macht, und davon, wie er es immer allen recht machen will, seinen Eltern, uns Journalisten, seinem Boss von Crimenetwork. Neils damaliger Boss hieß »Sicario«, Auftragskiller.
Dass wir Neil überhaupt treffen konnten, war nicht ganz einfach. Wochenlang hatten wir das Treffen vorbereitet, Bedingungen ausgehandelt, einen Ort zum Reden (belebt, viele Fluchtwege) vereinbart und einen, wo wir unsere Handys einschließen können (öffentlich, keine Überwachungskameras). Wir bestanden auf Dokumente, die seine Rolle (und damit seine Straftaten) belegen, und mussten ihm versprechen, ihn nicht bei der Polizei zu verraten.
Auch wir wussten natürlich nicht, worauf wir uns