Heimweh als Anpassungsschwierigkeit
Der medizinische Diskurs über Heimweh als tödliche Krankheit veränderte sich erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Industrialisierung erforderte eine höhere Mobilität der Menschen: Mit Zügen und Dampfschiffen oder auch auf Pferdekarren verließen sie ihre Heimat. Heimweh war in diesem Prozess steigender Mobilität eher ein hinderlicher Störfaktor. Es galt, sie als übergangsweise Anpassungsschwierigkeit zu überwinden. Heimweh wurde in der medizinischen Literatur des späteren 19. Jahrhunderts dementsprechend anhand von Begriffen wie Trennungsschmerz, Traurigkeit, Einsamkeit oder Melancholie beschrieben. Damit war Heimweh eher das Symptom einer depressiven Verstimmung bzw. eine Emotion denn eine Krankheit.
Heimweh als pädagogische Herausforderung
Heimweh als emotionale Anpassungsschwierigkeit wurde um 1900 eher unreifen (damit meinte der Diskurs auch: einfachen, ungebildeten) Menschen zugeschrieben, vor allem aber Kindern und Heranwachsenden. Dieser Wandel von der Krankheit Heimweh zu einem Anpassungsgefühl lässt sich sehr gut anhand des Heimwehdiskurses in der pädagogischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nachvollziehen.28 Um 1900 war die Kinderbuchheldin Heidi in Johanna Spyris weltbekanntem Roman noch schwerkrank; sie litt an pathologischem Heimweh, genau wie die Schweizer Söldner des 17. Jahrhunderts. Allein die Rückkehr in die Schweizer Alpen rettete sie vor dem unweigerlichen Tod. Die kindliche Trauer und verzehrende Sehnsucht nach der verlassenen Heimat und dem Elternhaus wurde nach der Jahrhundertwende zu einer erzieherischen Herausforderung. Die Kinder des frühen 20. Jahrhunderts waren im Gegensatz zu Heidi nicht mehr unheilbar krank, sondern nur unreif. Aufgabe der Eltern und Pädagog_innen war es, die Kinder anzuleiten, mit ihren emotionalen Anpassungsproblemen umzugehen, sie zu überwinden und daran zu reifen. So wird 1913 im Lexikon der Pädagogik das überwältigende Gefühl von Heimweh als ganz selbstverständlich beschrieben und zur Nachsicht geraten: „Da gilt es, Geduld zu üben und viel Liebe zu zeigen“.29 Gleichzeitig richtete sich der pädagogische Diskurs darauf aus, das Heimweh durch eine entsprechende Erziehung zu verhindern. „Charakterstärke“, „Sittlichkeit“ und „Vernunft“ galten als sinnvolles Gegenmittel und wurden den Eltern als klare Erziehungsziele aufgegeben.
In den Folgejahrzehnten setzte sich immer mehr die Auffassung durch, dass Heimweh ein Anzeichen von fehlendem Selbstwertgefühl sei und nur gemütsbetonte, schwache Kinder befallen würde. Daher war die Kinderbuchliteratur voll von Mädchen, die an Heimweh litten, wohingegen die Jungen eher zu Fernweh neigten und sich durch ihre Lust auf Abenteuer treiben ließen. Den Müttern wurde daher der Ratschlag erteilt, ihre Kinder nicht zu sehr zu verwöhnen, denn Reife könne sich vor allem durch innere Stärke entwickeln.
Das nostalgische Heimweh in der Nachkriegszeit
Dieser Heimwehdiskurs veränderte sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts Millionen Geflüchteter und Vertriebener gravierend. Heimweh, als die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat und einer verlorenen Zeit, wurde zu einem öffentlich zeigbaren und erlaubten Gefühl, nicht nur für Kinder. Dieses nostalgische Heimweh kann als Grundgefühl der Bundesrepublik der 1950er bezeichnet werden. Nicht von ungefähr stand der Schlager „Heimweh“ von Freddy Quinn 1956 für 21 Wochen an der Spitze der deutschen Hitparade – bis heute ein Rekord.
Das modernitätskritische Heimweh
In den 1960er/1970er Jahren verlor das Heimweh im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik an Bedeutung. Um 1980 wiederum kehrte es zurück, dieses Mal im Gewand eines legitimen modernitätskritischen Gefühls, in einer Zeit, die als Postmoderne, als „Auslaufen der Fortschrittsmoderne“30 charakterisiert wird. Mit dem Heimwehgefühl fand das Verlangen nach und das Recht auf Wurzeln und Geborgenheit eine neue Berechtigung. Heimweh war erlaubt, mehr noch, Heimweh war nach einer Phase von Heimatverlust, Flucht oder Vertreibung aus der Heimat in der Mitte des Jahrhunderts sogar notwendig im persönlichen Reifeprozess, um sich in einer immer mobileren und sich globalisierenden Welt zurechtzufinden.
Gesellschaftliche Diskurse verändern Emotionsregeln
Dieser Exkurs über Heimwehdiskurse in über 300 Jahren zeigt beispielhaft, dass es kein universelles Heimwehgefühl gab und gibt, mehr noch: Das Heimweh startete als Krankheit, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Verlust- und Sehnsuchtsgefühl und im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein modernitätskritisches Gefühl. Diese Geschichte verdeutlicht, dass sich Gefühle im Wechselspiel mit medizinischen, pädagogischen und philosophischen Diskursen und in Abhängigkeit von historischen Ereignissen permanent verändern. Das ist ein Befund, der verallgemeinert werden kann: Emotionen sind kulturell und historisch wandelbar und unterliegen permanenter Aushandlung und Anpassung an die je zeitgenössischen Emotionsregeln und an die je eigene Gemeinschaft. Der Exkurs zu Heimweh unterstreicht, wie sich ein bestimmtes Gefühl im Laufe mehrerer Jahrhunderte wandelte, wie sich gesellschaftliche Vorstellungen und Diskurse veränderten und wie diese festlegten, was zu fühlen erlaubt war und was nicht, wie ein bestimmtes Gefühl in der Öffentlichkeit gezeigt werden durfte oder nicht bzw. welche Gefühle warum überwunden werden sollten.
Das Beispiel zeigt aber auch, dass Emotionen als Modus menschlicher Weltwahrnehmung und menschlichen Handelns ein elementarer Bestandteil von Geschichte sind. Zugleich sind sie aus diesem Grund auch immer Teil von Geschichtsdarstellungen. Es liegt auf der Hand, dass sie auch in der Begegnung mit Geschichte eine große Rolle spielen.
3.3.2Subjektebene: Emotionen in der Begegnung mit Geschichte
Emotionen sind bei der Geschichtsvermittlung immer vorhanden
Ein bedeutender institutioneller Rahmen für Begegnungen mit Geschichte ist der schulische Geschichtsunterricht. Die Theoriebildung zu Emotionen in Auseinandersetzung mit Geschichte findet daher bisher durch die Geschichtsdidaktik statt, auch wenn es bisher kaum empirische Forschung dazu gibt. Die Impulse kamen in den letzten Jahren zum einen aus der fachwissenschaftlichen Emotionsgeschichte; zum anderen ist das akademische Interesse an Emotionen in Lehr-Lern-Kontexten in der letzten Zeit ganz besonders ausgeprägt.
Aus diesem Grund leiten sich die folgenden Überlegungen über subjektive Emotionen in der Begegnung mit Geschichte aus geschichtsdidaktischen Überlegungen her, die sich zum großen Teil aus Forschungen zum Geschichtsunterricht speisen. Diese werden am Ende dieses Kapitels in Hinblick auf die Fragen und Anforderungen der Public History zugespitzt.
Aktivierung und Blockierung von Emotionen sind Emotionsmanagement
Emotionen sind in der Auseinandersetzung mit Geschichte, egal in welchem institutionellen Rahmen, schon immer vorhanden.31 Geschichtsdarstellungen sollen traditionellerweise Kenntnisse vermitteln und Orientierungswissen bereitstellen. Um das leisten zu können, sollen sie Neugierde wecken können, möglichst spannend sein, Interesse herstellen, bestenfalls für historische Themen begeistern. Emotionen haben aber keinen klar bestimmbaren, systematischen Ort in der Begegnung mit Geschichte, der sich auf diese Darstellungs- und Aktivierungsebene begrenzen lässt. Alle beteiligten Personen bringen ihre Emotionen in die Begegnung mit Geschichte mit hinein. Damit verändert jede_r Einzelne die Atmosphäre im Klassenzimmer, in der Ausstellung, in der Gedenkstätte und beeinflusst den Prozess der Geschichtsaneignung. Dabei lässt sich der Umgang mit Emotionen unterscheiden einerseits in die bewusste Aktivierung von als positiv konnotierten Gefühlslagen wie Interesse, Neugierde oder Empathie. Andererseits werden als störend bewertete Emotionen wie Langeweile oder Ablehnung aus der Perspektive der Geschichtsmacher_innen gezielt blockiert, wohingegen Schüler_innen, die sich gezwungenermaßen mit Geschichte beschäftigen müssen, auch ablehnende Emotionen gezielt aktivieren können. Ob nun Aktivierung oder Blockierung, beides sind Formen des Emotionsmanagements.
Wilhelm Dilthey und die Gefühle als Erkenntnismethode
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