Nutzen wir den Authentizitätsbegriff als Analysekategorie, so lassen sich im Geschichtstheater vielfältige Formen von Authentizität identifizieren und bei Mitwirkenden und Zuschauenden unterschiedliche Authentizitätserwartungen antreffen. Dies hat unter anderem Wolfgang Hochbruck in seiner Studie zu Reenactments der Schlacht von Gettysburg 1863 demonstriert, die sich seit 1888 nachweisen lassen.51 Er zeigt, dass zunächst teilnehmende oder zuschauende Veteranen als Verbindung zur Vergangenheit und damit Authentizitätsgaranten wahrgenommen wurden, wodurch Kleidung, Ausrüstung und Waffen nicht der damaligen Zeit entsprechen mussten, sondern aus der Gegenwart stammen oder fiktiv gestaltet sein konnten. Dies änderte sich jedoch, als keine Veteranen mehr an den Aufführungen teilnehmen konnten. Nun mussten Uniformen, Ausrüstungen und Waffen möglichst genaue Repliken sein und die authentische Erfahrung wurde mit der Verwendung von authentischen Objekten verknüpft. Als Garanten der Authentizität wurden die Zeitzeug_innen somit durch Objekte am historischen Ort ersetzt.
2.4.4Authentizität im Film
Filmische Medien gebrauchen vielfältige Strategien, um Authentizität zu erzeugen, wobei sich spezifische Verfahren für dokumentarische und für fiktionale Formen herausgebildet haben.
Dokumentarfilm
Im Bereich des Dokumentarfilms gelten beispielsweise Filme des Direct Cinema als besonders authentisch.52 Diese Filmrichtung hat sich in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Einführung von leichten 16-mm-Kameras und tragbaren Tonaufnahmegeräten etabliert. Hierdurch wurde es möglich, den Protagonist_innen mit der Kamera auf Schritt und Tritt zu folgen und ihren Alltag zu dokumentieren. Prämisse des Direct Cinema war, nicht in die vorgefundene Situation einzugreifen und keine Veränderungen vorzunehmen, um der Kamera beispielsweise einen besseren Blickwinkel oder eine bessere Lichtsituation zu verschaffen. Daher sind in den fertigen Filmen oftmals Ansichten verstellt, Personen angeschnitten und die Bild- und Tonqualität variiert. Genau diese Elemente sind es, die den Eindruck von Authentizität erzeugen, denn sie behaupten, die vorgefundene Wirklichkeit unverändert abzubilden.53
Die sozialen Akteur_innen, die in Dokumentarfilmen auftreten, können mehr oder weniger authentisch erscheinen. Dabei lässt sich der Eindruck eines unverstellten Verhaltens oft darauf zurückführen, dass sich die Protagonist_innen, die von der Kamera begleitet werden, auch in ihrem Alltag häufig in Situationen befinden, in denen sie vor anderen sprechen oder agieren. Sie sind daher an ‚Auftritte‘ gewöhnt und in der Lage, sich vor einem Publikum ungekünstelt und authentisch zu präsentieren. Doch auch Personen, die in Dokumentarfilmen die Kontrolle über ihre Emotionen verlieren, werden als authentisch wahrgenommen.54 Dies lässt sich beispielsweise in Geschichtsdokumentationen beobachten, in denen sich Zeitzeug_innen an die Vergangenheit erinnern. Interviewpartner_innen, die schon häufiger von ihren Erlebnissen berichtet haben und die daher bereits geübt sind, diese als Erzählung zu präsentieren, wirken in Filmen und Fernsehsendungen deutlich weniger authentisch als emotional sprechende Zeitzeug_innen, die ins Stocken geraten, Grammatikfehler machen oder von ihren Erinnerungen überwältigt werden.55 Die Authentizität von Personen resultiert in Dokumentarfilmen also aus gegensätzlichen Eigenschaften: entweder aus ihrer Routine mit öffentlichen Auftritten oder aus ihrer Ungeübtheit beim Schildern von Erlebtem.
Spielfilm
Spielfilme greifen häufig auf dokumentarische Aufnahmen zurück, um ihrer Darstellung der Vergangenheit Authentizität zu verleihen. So sind Kulissen und Kostüme in fiktionalen Filmen an historischen Fotografien oder dokumentarischen Filmen orientiert oder es wird in Dokudramen historisches Bildmaterial in Spielszenen integriert.56 Die Differenz der Bildqualität markiert hier, welche der Aufnahmen die ‚historische Realität‘ zeigen. Durch diese Verknüpfung verlängert sich die Authentizität der dokumentarischen Bilder in die Spielhandlung hinein und verleiht dieser Glaubwürdigkeit. Requisiten, mit denen die Erzählung zeitlich verortet wird, haben einen ähnlichen Effekt: das Zeitungsexemplar, das auf dem Tisch liegt, oder die Nachrichtensendung, die über den Fernsehbildschirm flimmert, tragen zum Eindruck bei, die dargestellten Ereignisse seien historisch verbürgt.57
Auch die Kameraführung, Bildqualität und Montage können zum Eindruck von Authentizität beitragen. Anhand von Schindler’s List (USA 1993) und Saving Private Ryan (USA 1998) lassen sich exemplarisch einige der visuellen Mittel und Verfahren aufzeigen, die filmischen Darstellungen Authentizität verleihen. Beide Filme sind von Steven Spielberg und handeln von historischen Ereignissen der 1940er Jahre: Schindler’s List schildert, wie der Geschäftsmann Oskar Schindler jüdische Arbeiter seiner Fabrik vor der Vernichtung rettete, und Saving Private Ryan zeigt die Landung der Alliierten in der Normandie (1944). Beide Filme wurden von Filmkritiker_innen mit Bezug auf ihren Realismus bzw. ihre Authentizität besprochen,58 machen jedoch von ganz unterschiedlichen Verfahren Gebrauch. So ist Schindler’s List in Schwarz-Weiß gedreht und zeichnet sich damit durch eine Bildqualität aus, die im Allgemeinen als authentisch gilt, wobei die Filmaufnahmen nicht zuletzt durch die harten Kontraste an Wochenschauen aus den 1940er Jahren erinnern.59 Saving Private Ryan ist hingegen ein Farbfilm, dessen Anfangssequenz, in der alliierte Soldaten versuchen, den Strand von Omaha Beach zu erreichen, vor allem durch die Verwendung von Handkameras authentisch wirkt. Anders als ruhige Kamerafahrten lassen sich Aufnahmen mit Handkameras direkt an die eigene Wahrnehmung bei Bewegungen durch den Raum koppeln und erscheinen dadurch ‚echt‘. In Saving Private Ryan wird das dargestellte Chaos beim Versuch, trotz feindlichem Beschuss an Land zu gehen, zudem durch die Montage verstärkt. Die schnellen Schnitte und die flexible Kamera erzeugen den Eindruck, der Film zeige, wie die beteiligten Soldaten die Landung in der Normandie wirklich erlebt haben müssen.
Neben diesen filmästhetischen Elementen tragen auch Schrifteinblendungen, die das dargestellte Geschehen geografisch und zeitlich konkret verorten und dadurch eine historische Nachprüfbarkeit behaupten, zur Authentifizierung von fiktionalen Filmhandlungen bei. Und schließlich übernehmen auch die Werbung und die Filmkritik einen Teil dieser Funktion: Filmplakate kündigen eine „wahre Geschichte“ an, Regisseur_innen und Schauspieler_innen schildern in Interviews die Mühen, die sie auf sich genommen haben, um einen authentischen Film zu machen, und Kritiker_innen (und manchmal auf Historiker_innen) wägen in ihren Filmbesprechungen ab, wie nahe die Darstellung der historischen Realität kommt.
Der Eindruck von Authentizität entsteht im Film durch spezifische Strategien und Verfahren und ist immer eine Konstruktion. Aus analytischer Perspektive lassen sich diese Verfahren der Authentifizierung systematisch in den Blick nehmen, wobei der historische Vergleich zeigt, dass sich diese im Laufe der Zeit verändern. Der Film unterscheidet sich darin nicht von anderen Bereichen der Public History, in denen Authentizität eine zentrale Rolle spielt. Am Beispiel des Films wird jedoch die paradoxale Struktur des Authentischen besonders deutlich: Erst durch die mediale Vermittlung entsteht Authentizität.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Authentizität vielgestaltig ist und sich immer aus der Relation zwischen Objekten und Subjekten speist. Historische Exponate oder Repliken von Objekten können dann ein Echtheitserlebnis in Gang setzen, wenn Besucher_innnen bzw. Teilnehmer_innen bereit sind, dieses als Authentizität wahrzunehmen. Als analytischer Zugang zur Public History ermöglicht es der Begriff zum einen, die Strategien und Verfahren in den Blick zu nehmen, mit denen Geschichte präsentiert und inszeniert wird. Anhand von Fallbeispielen haben wir gezeigt, dass diese je nach Ort, Medium oder Darstellungsmodus stark variieren können. Zum anderen eröffnet der Begriff eine analytische Perspektive auf unterschiedlichste Formen der Aneignung von Geschichte – von der kontemplativen Andacht im Museum, der traumähnlichen Rezeption im Kinoraum oder dem Eintauchen in Literatur über das aktive Mitwirken an einem Reenactment bis hin zum virtuellen Erleben in Computerspielen.
Nicht nur am eingangs erwähnten Beispiel von Assassin’s Creed Unity zeigt sich, dass das Versprechen von Authentizität bei der Gestaltung von Public-History-Angeboten von zentraler Bedeutung ist. Damit machen Museen, Reenactment-Gruppen und Spieleanbieter von einer Strategie Gebrauch, die in der Werbung für Konsumgüter schon länger erfolgreich