Emotionale Überwältigung und der Beutelsbacher Konsens
Diese Ambivalenz der Emotionen ist mittlerweile Thema zahlreicher Tagungen oder Vernetzungstreffen, auf denen Akteur_innen der Public History offensiv die Bedeutung von Emotionen in der Begegnung vor allem mit der deutschen Diktaturgeschichte diskutieren.46 Insbesondere die Frage nach emotionaler Überwältigung und ihrer Zulässigkeit steht dabei zur Diskussion. Denn während einerseits das Bedürfnis in Museen, Gedenkstätten und sonstigen Orten der Geschichtsvermittlung groß ist, Interesse und Aufmerksamkeit zu wecken, wird andererseits immer wieder auf die Gefahr einer zu starken Emotionalisierung hingewiesen. Im Rahmen dieser Diskussion rückt der mittlerweile über 40-jährige Beutelsbacher Konsens in den Mittelpunkt des Interesses. Die Grundsätze dieses Konsenses wurden 1976 ursprünglich für die politische Bildung formuliert. Auch wenn er als Minimalkonsens galt, sollte mit den Prinzipien Kontroversität, Schüler_innenorientierung und Überwältigungsverbot eine politische Indoktrination der Lernenden wirkungsvoll verhindert werden. Interessanterweise erhielt dabei das Überwältigungsverbot im Kontext der Diskussion um Gedenkstättenarbeit eine zusätzliche Bedeutungsebene. Ursprünglich zielte es auf die Verwerfung solcher Formen oder Methoden der Vermittlung, die dazu geeignet schienen, „den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern“.47 Mittlerweile geht es hingegen nicht mehr vorrangig um ein argumentatives Überwältigen, sondern vor allem um eine emotionale Überwältigung.48
Grenzen zwischen Emotionalisierung und emotionaler Überwältigung
Aus der obigen Theoretisierung von Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene ergeben sich klare Grenzen zwischen Emotionalisierung und emotionaler Überwältigung. Emotionalisierung ist die Mobilisierung der subjektiven Emotion der Rezipient_innen; die Emotionen verbleiben jeweils auf der Objekt- bzw. auf der Subjektebene, ohne sich zu vermischen. Das heißt, im Asisi-Panorama ist zwar die Normalität des Schreckens der Mauer dargestellt, die Besucher_innen von heute dürfen diesem „Grauen“ im Schatten der Mauer mit ihrer eigenen Neugierde oder Skepsis, vielleicht sogar Ablehnung oder auch Wut darüber begegnen, dass so etwas möglich war. Eine emotionale Überwältigung aber findet dann statt, wenn historische Emotionen heute nachgefühlt werden sollten, d. h. die Objektebene verlassen und auf die Beeinflussung individuellen Fühlens abzielen.
3.4Ein Plädoyer für Emotionen in der Public History
Emotionalisierungsstrategien transparent gestalten
Auf der Grundlage vorliegender Überlegungen ergeben sich zwei entscheidende Einwände gegen die emotionale Überwältigung: Erstens können historische Emotionen schon deshalb nicht nachgefühlt werden, weil sie sich im Laufe der Zeit verändern. Die Menschen der Jetztzeit wissen, dass die Mauer seit 30 Jahren nicht mehr existiert, dass die bewaffneten Grenzsoldaten niemandem mehr gefährlich werden können. Heutige Besucher_innen können, wann immer sie wollen, das Panorama verlassen und sich ganz dem Großstadttrubel am Checkpoint Charlie hingeben. Der zweite Einwand resultiert aus geschichtsdidaktischen Überlegungen. Die Begegnung mit der Vergangenheit kann dann identitätsbildend und handlungsorientiert sein, wenn sie das individuelle Erinnern und eigene Erfahrungen mit der und über die Zeit aufgreift und nicht schlichtweg nachzubilden versucht. Dies verweist noch einmal zurück auf die grundsätzliche Einsicht, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte vielmehr eine Alteritäts- denn eine Identitätserfahrung ist. Vergangenheiten waren eben grundsätzlich anders als unsere Gegenwart, auch wenn sie im Geschichtserlebnis als vertraut und ähnlich präsentiert werden. Das bedeutet, dass die über Emotionen vermittelte Begegnung mit Geschichte durchaus sinnvolle Anreize schaffen kann, aber nur dann, wenn die Emotionen ganz klar auf der Objektebene bleiben und es den Menschen der heutigen Zeit möglich bleibt, (auf der Subjektebene) ihre eigenen, durchaus sehr unterschiedlichen Emotionen zu haben und zu thematisieren. Das bedeutet für öffentliche Präsentationen von Geschichte, dass die Strategien der Emotionalisierung transparent sein und dass mehrere verschiedene Narrative angeboten werden sollten. Diese ermöglichen es, visuelle und akustische Dramatisierungseffekte am Ende des Geschichtserlebnisses aufzulösen, und entlassen die Besucher_innen in die je eigene Gegenwart mit (emotionalen) Impulsen zum Weiterdenken.
Einführende Literatur
Brauer, Juliane: ‚Heiße Geschichte‘? Emotionen und historisches Lernen in Museen und Gedenkstätten, in: Sarah Willner u. a. (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016, S. 29–44.
Brauer, Juliane/Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: dies. (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 11–26.
Frevert, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35/2 (2009), S. 183–209.
Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012.
1 Hans-Werner Marquardt: Geschichte fühlen statt lesen, in: BZ, 10.8.2012, https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/geschichte-fuehlen-statt-lesen, letzter Zugriff: 15.1.2021.
2 Damit knüpft es an das Panorama des 19. Jahrhunderts als eine populäre Darstellungsform von Geschichte an. Siehe Bernhard Comment: Das Panorama. Die Geschichte einer vergessenen Kunstform, Berlin 2000.
3 Ernst Elitz: Touristenhölle mitten in Berlin, in: Cicero, 9.8.2018, https://www.cicero.de/kultur/Checkpoint-Charlie-Berlin-Tourismus-BlackBox-Kalter-Krieg, letzter Zugriff: 15.1.2021.
4 Aristoteles zit. n. Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 23.
5 Ebd., S. 22.
6 Ebd., S. 16 f.
7 Plamper: Geschichte und Gefühl; Rob Boddice: History of Emotion, Manchester 2018.
8 Gemäß dem Vorschlag von Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 22.
9 Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Hamburg 2019.
10 Bettina Hitzer: Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2020.
11 Imke Rajamani: Angry Young Men. Masculinity, Citizenship and Virtuous Emotions in Popular Indian Cinema, Berlin 2016.
12 Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt a.M. 2017.
13 Martina Kessel: Gewalt und Gelächter. ‚Deutschsein‘ 1914–1945, Stuttgart 2019.
14 Lucien Febvre: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen, in: ders.: Das Gewissen des Historikers, Frankfurt a.M. 1990, S. 91–108, hier S. 93.
15 H. K.: Die Stimmung in Freiburg, in: Freiburger Zeitung, 1.8.1914, S. 3.
16 Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2015.
17 Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.
18 Aus dem Kriegstagebuch