Heute ist der Checkpoint Charlie ein Rummelplatz mit dem Charme einer innerstädtischen Müllhalde […]. Hütchenspieler zocken Touristen ab, GI-Darsteller lassen sich vor einer Kontrollbuden-Attrappe mit aufgeregten Berlin-Besuchern fotografieren. Gruseln vor der Mauer gehört zum Reiseprogramm.3
Es wird deutlich, dass das Erlebnis von Geschichte in zweifacher Hinsicht auf das emotionale Erleben setzt. Einerseits sollen Neugierde und Interesse der Besucher_innen durch die Inszenierung geweckt werden, andererseits wird versucht, historische Emotionen zu vermitteln, wie Beklemmung und Angst (das historische Gruseln) angesichts der Grenzanlagen.
Emotionen machen das Geschichtserlebnis attraktiv
Das Mauer-Panorama steht für einen Trend in der gegenwärtigen Public History. Die Vergangenheit scheint vor allem dann spannend, attraktiv und damit ökonomisch einträglich, wenn sie als Erlebnis (vgl. Kap. 5) oder als Event daherkommt und nicht mehr nur Kognition, sondern auch Emotionen adressiert. Die Geschichtsdarstellung muss dementsprechend nicht nur den Kopf ansprechen, sondern auch mit allen Sinnen erfahrbar sein, das Herz berühren. Das Beispiel macht deutlich, welche entscheidende und doppelte Bedeutung dem emotionalen Erlebnis in der Begegnung mit Geschichte zugeschrieben wird. Emotionen sind erstens Gegenstand der Darstellung. In dem Beispiel geht es um die Emotionen der West-Berliner_innen im Schatten der Mauer an einem Novembertag im Jahre 1980. Zweitens soll Geschichte gefühlt werden, d. h., das Erlebnisangebot soll Emotionen bei den Besucher_innen hervorrufen, Neugierde wecken, zum Mitfühlen einladen, unterhaltsam sein.
Emotionen, so unsere zentrale Annahme, sind eine Analysekategorie, die dazu geeignet ist, den spezifischen performativen Charakter von Geschichtsdarstellungen (vgl. Kap. 10) zu erfassen. Doch was sind Emotionen, gar historische Emotionen? Wo genau befinden sie sich im Prozess der Geschichtskommunikation? Was sind Strategien und Praktiken der Emotionalisierung und wie prägen oder verändern sie heutige Geschichtsdarstellungen? Im Folgenden wird zunächst geklärt, was Emotionen sind, und anschließend verdeutlicht, dass es sehr verschiedene Zugänge zu Emotionen und Geschichte gibt, weshalb auch ihre Rolle in der Public History und ihre Analyse vielschichtig und komplex sind.
3.2Emotion, Affekt und Gefühl. Ein Ordnungsversuch
Emotionen zwischen Universalismus und Konstruktivismus
Über das menschliches Fühlen zerbrachen sich schon Philosoph_innen vor mehr als zwei Jahrtausenden den Kopf. So stammt von Aristoteles eine der bekanntesten und frühesten Definitionen von Emotionen. Sie
sind die Dinge, durch welche sich die [Menschen], indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgt, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid oder Furcht und was es sonst noch Derartiges davon gibt sowie die Gegenteile von diesen.4
Diese Definition ist deshalb der Ausgangspunkt für die Emotionsforschung, da sie sowohl für einen universellen Blick auf Emotionen steht, als auch das Moment der Wandelbarkeit, der Veränderung erfasst.
Affekte sind universale körperliche Reaktionen
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge einer Ausdifferenzierung und Etablierung von akademischen Disziplinen und Methoden, kristallisierten sich zwei entgegengesetzte Vorstellungen von menschlichen Emotionen heraus, die bis heute den disziplinär spezifischen Zugriff auf das menschliche Fühlen bestimmen: zum einen die ältere und damit auch diskursiv wirkmächtigere universalistische Vorstellung von zeit- und kulturübergreifendem menschlichem Fühlen, zum anderen ein kulturkonstruktivistischer Blick auf Emotionen. Die universalistische Vorstellung, vertreten vor allem von Neurowissenschaftler_innen, geht davon aus, dass Menschen über ein Set von Basisemotionen verfügten, das über Jahrtausende unverändert sei und kulturunabhängig funktioniere. Es wird versucht, das menschliche Fühlen vor allem durch den Blick auf Gehirnaktivitäten zu ergründen. Vertreter_innen der Neurowissenschaften sprechen gern von Affekten statt von Emotionen, weil dahinter die Vorstellung steht, dass der Affekt etwas „rein körperliche[s], vorsprachliche[s], unbewusst[ ] Emotionale[s]“ sei.5
Emotionen verändern sich im Laufe der Geschichte
Geisteswissenschaftler_innen halten jedoch dagegen: Für sie sind Emotionen keine anthropologischen Konstanten. Stattdessen betonen sie, dass menschliches Fühlen kultur- und zeitspezifisch ist. Im Unterschied zur Annahme unmittelbarer körperlicher Affekte wird hier davon ausgegangen, dass es ein bewusstes Fühlen gibt und dieses sowohl in sprachliche als auch in nonverbale Repräsentationen eingeht. Diese wiederum sind die Quellen, die es zu analysieren gilt, wenn man vergangenem Fühlen und seinem Wandel auf die Spur kommen möchte.
Die neuere geisteswissenschaftliche Forschung zu Emotionen versucht sich von den traditionellen Dichotomien von Natur vs. Kultur und damit Universalismus vs. Sozialkonstruktivismus zu befreien.6 Auf der Suche nach einer operationalisierbaren Synthese zwischen den Geistes- und den Lebenswissenschaften gibt es auch und gerade von Seiten der Historiker_innen in den letzten beiden Jahrzehnten Ansätze, die insbesondere für oben gestellte Fragen nach Emotionen und Emotionalisierung in der Public History vielversprechend sind.7 Entsprechend diesen Vorschlägen soll im Folgenden der Begriff der Emotion als „Metabegriff“ benutzt werden, wobei Emotion und Gefühl synonym verwendet werden. Auf den Begriff des Affektes hingegen, der sich durch die Annahme des vorsprachlich Unbewussten gegen die oben benannte Synthese sperrt, wird hier bewusst verzichtet.8
Angst ist eine Körperreaktion und eine kulturelle Praktik
Emotionen sind eine zentrale Dimension von Erfahrung und Erkenntnis; diese Einsicht wird disziplinenübergreifend geteilt. Für die Frage nach Gestalt, Ausprägung und Darstellung der Gefühle von Menschen in vergangenen Zeiten braucht es jedoch einen substanziell anderen Zugang als den der natur- und lebenswissenschaftlich arbeitenden Disziplinen. Anders als Neurowissenschaftler_innen können Historiker_innen ihren Untersuchungssubjekten nicht in den Kopf hineinschauen, mithilfe von bildgebenden Verfahren Gehirnaktivitäten darstellen. Historiker_innen brauchen überlieferte Repräsentationen der Emotionen von Menschen, die im jeweiligen Untersuchungszeitraum lebten, also Quellen, mit deren Hilfe vergangenes Fühlen rekonstruiert werden kann. Doch nicht nur die erkenntnistheoretischen Methoden, sondern auch die forschungsleitenden Fragestellungen an menschliches Fühlen in der Geschichte unterscheiden sich grundsätzlich. Während beispielsweise die Neurowissenschaft den Affekt Angst in der Amygdala des menschlichen Gehirns als Ergebnis chemischer Reaktionen untersucht, interessieren sich Historiker_innen dafür, mit welchen Worten und in welchen Praktiken Angst in spezifischen Kulturen und Zeiten zum Ausdruck gebracht wurde, wie sich die Repräsentationen der Emotion Angst veränderten und wie das Angstfühlen sich in wirkmächtige Handlungen übersetzte.9 Dennoch sind Emotionen, auch wenn sie kulturkonstruktivistisch konzipiert werden, nicht körperlos zu denken. Daher wird im folgenden Abschnitt eine Definition von Emotion vorgeschlagen, die der Idee der transdisziplinären Synthese folgt und dabei die Historizität von Emotionen an die vorderste Stelle rückt.
3.3Emotionen und Geschichte. Eine Analyse in drei Schritten
Eine Theorie der Emotionen in der Public History bedarf einer analytischen Unterscheidung auf drei Ebenen.
Emotionen sind historische Objekte
Erstens haben wir es mit vergangenen Emotionen der historischen Akteur_innen zu tun. Die geschichtswissenschaftliche Theoretisierung findet in dem Forschungszweig statt, der sich in den letzten 10 bis 15 Jahren unter der Bezeichnung Geschichte der Gefühle oder history of emotions international etabliert hat. Die Emotionen sind Objekte historischer Erforschung. So wird beispielsweise nach Angst10, Wut11,