Das Ersteinreiseprinzip trat in den Gründerstaaten des Schengenraumes in Kraft, die eine Gemeinschaft mit engen Abhängigkeitsbeziehungen und ähnlichen staatlichen Traditionen bildeten. Die Zuschreibung der Asylgerichtsbarkeit nach dem Ersteinreiseprinzip führte weder zu größeren Verschiebungen in der Verantwortlichkeit oder zu sonstigen Störungen (Marx 2016a: 151).
Flüchtlinge, die den Schengenraum in den 1990er Jahren erreichten, stammten hauptsächlich aus Jugoslawien und migrierten zu einem großen Teil nach Deutschland. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen hatten sich bereits einige Flüchtlinge in Deutschland niedergelassen, weshalb es erste Gemeinschaften gab, die als etablierte ethnische Gemeinschaften gelten konnten. Zum anderen verfügte Deutschland aus historischer Verantwortung über ein großzügiges Asylsystem, das im Grundgesetz verankert war.2 Es lässt sich daher argumentieren, dass die Dublin-Regeln gut funktionierten, als sie nicht wirklich angewendet werden mussten, weil Deutschland in den meisten Fällen das Ersteinreiseland war und dort entsprechend die Asylanträge bearbeitet wurden (Menéndez 2016: 394).
Doch die Dinge änderten sich schnell: Zunächst verfolgte Deutschland ab 1993 eine restriktivere Asylpolitik. Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde das bisher großzügig als Grundrecht verstandene Asylrecht auf politisches Asyl begrenzt. Zudem wurden Transitstaaten effektiv zur Verantwortung gezogen: Flüchtlinge sollten nach Meinung des deutschen Gesetzgebers Anträge dort stellen, wo sie zum ersten Mal ein sicheres Land erreichten – und nicht bis Deutschland wandern (Hix und Hoyland 2011: 290). Seitdem rückten Peripheriestaaten mit Außengrenze stärker ins Visier der Asylzuwanderung und wurden durch die Dubliner Kriterien und den damit einhergehenden Dublin-Überstellungen stärker gefordert (Lavenex 2001: 861).
Der Schengenraum ist progressiv gewachsen und zählt nun 26 Anwenderstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn.3 Diese Liste der Schengenstaaten verdeutlicht, dass es sich inzwischen um eine politisch wie sozio-ökonomisch deutlich heterogenere Gemeinschaft handelt im Vergleich zur Gemeinschaft der Gründerstaaten. Auch die Erfahrung mit Flüchtlingen divergiert stark: Gerade die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben bislang wenig Erfahrung mit Flüchtlingen (Schmidt 2015).
Die Erweiterung der Europäischen Union und des Schengenraums haben auch dazu geführt, dass Deutschland als Zielland nicht mehr direkt zu erreichen ist; dadurch ist es auch schwieriger geworden, Deutschland für Asylverfahren zuständig zu erklären (Menéndez 2016).
Auch die Asylzuwanderung hat sich verändert: Während die 1990er Jahre noch von der Zuwanderung aus Jugoslawien geprägt waren, so nahm in den 2000er Jahren die Einreise aus Nordafrika und dem Nahen Osten Richtung Südeuropa zu. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Zuwanderung im Jahr 2001 mit der Ankunft von 400.000 Flüchtlingen vor allem aus Afghanistan und Irak vorrangig in Italien, Malta und Griechenland (Hix und Hoyland 2011: 290-291).
Die hauptsächlichen Zielstaaten haben sich bis 2010 kaum verändert: Gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt verzeichneten Deutschland, Malta, Schweden, Belgien und Österreich die größte Anzahl an Asylanträgen (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Die Gründe für diese spezifische Proportionalität sind einerseits geographisch bedingt (Malta), andererseits das Ergebnis historischer Verbindungen zu kolonialem Erbe (Belgien) oder bedingt durch die vergleichsweise guten Aufnahmebedingungen in nationalen Asylsystemen ebenso wie das Vorhandensein einer Diaspora (Deutschland, Schweden) (Hix und Hoyland 2011: 290-291).
Im Jahr 2014 erhielten Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und Ungarn die meisten Anträge gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (Europäische Kommission 2015a). Im Vergleich zur Bevölkerungszahl haben hingegen Schweden, Ungarn und Österreich im Jahr 2014 die meisten Flüchtlinge aufgenommen (Eurostat 2015).
Der Blick auf diese Zahlen und die wiederkehrende politische Diskussion um die Zuständigkeitsfrage verdeutlichen mehrere Aspekte: (1) Schengen steht in erster Linie für den Raum ohne Binnengrenzen, für die Grenzfreiheit in der Europäischen Union. (2) Die Asylpolitik ist mit der Schengenpolitik untrennbar verbunden, das zeigt besonders die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ab 2015. (3) Es gibt einen Vorlauf für die Asylschutzkrise von 2015. Über Jahre hinweg nimmt die Asylzuwanderung zu, sind nordeuropäische Staaten wie Deutschland und Schweden Hauptzielstaaten.
Trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus dem Komplex Grenze und Asyl ergeben, gilt das Schengener Integrationsprojekt als eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration. Diese Einschätzung soll daher nun integrationstheoretisch eingeordnet werden.
2.2.2 Schengen und Theorien europäischer Integration
Die Europäische Union ist als politisches System in ständiger Entwicklung begriffen. Darauf deuten unter anderem die regelmäßigen Vertragsrevisionen, die zu einer kontinuierlichen Ausweitung von Kompetenzen in verschiedenen Politikfeldern und zur Feinkalibrierung institutioneller Beteiligung geführt haben.
Die ständige Entwicklung macht es schwierig, die europäische Gemeinschaft theoretisch eindeutig zu greifen. Es erklärt auch, warum es mittlerweile unzählige theoretische Ansätze zur europäischen Integration gibt (zur Einführung in die Theorien europäischer Integration: Rosamond 2000; Grimmel und Jakobeit 2009; Bieling und Lerch 2012).
Theorien europäischer Integration versuchen retrospektiv bestimmte Integrationsprozesse mithilfe ausgewählter Variablen zu erklären. Zugleich wollen sie eine Prognose über den zu erwartenden Verlauf der Integration liefern. Im Mittelpunkt der europäischen Integrationstheorien steht die Beantwortung der Frage, warum die Mitgliedstaaten bereit waren, nationale Souveränitätsrechte an die Gemeinschaft abzutreten – zu Beginn der Integration ebenso wie im Verlauf der Integration durch eine zunehmende Kompetenzverlagerung.
Die Grenzpolitik ist eines dieser sensiblen Politikfelder, weil sie mit der nationalen Souveränität in Verbindung steht, zu entscheiden, wer unter welchen Bedingungen den Boden eines Staates betreten darf. Verknüpft mit der Einwanderungspolitik betrifft sie die Komposition einer Gesellschaft und damit einen eindeutigen Kern nationaler Politik (Bürgerschaft). Asylpolitik ist ein weiteres Beispiel für ein stark in der Innenpolitik verankertes Politikfeld. Mit der Ausgestaltung des Asylsystems handelt eine Gesellschaft ihre Bereitschaft zu humanitärer Hilfe und Offenheit gegenüber Nichtbürgern aus.
In beiden Bereichen ist beobachtbar, wie der gemeinsame Markt – als ursprüngliches singuläres Integrationsziel – mit den damit verbundenen vier Grundfreiheiten sukzessive politischen Raum greift: Will man den Markt zu einem Markt zusammenwachsen lassen, so müssen die Grenzen innerhalb des Marktes durchlässiger werden, insbesondere um die Verwirklichung der Grundfreiheiten zu erreichen (Waren, Dienstleistungen, Kapital, Personen).
Es gibt nur eine Handvoll Integrationstheorien, die einen ganzheitlichen Ansatz bei der Erfassung europäischer Integrationsprozesse verfolgen und über Jahrzehnte hinweg rezipiert werden. Hier haben sich die als überholt geltende, aber immer noch einflussreiche Theorie des Neofunktionalismus aus den 1950er und 1960er Jahren durchgesetzt und als Kontrapunkt gewissermaßen die Theorie des Liberalen Intergouvernementalismus, der seine Wurzeln in den 1980er Jahren hat. Die Entwicklung der Vergemeinschaftung von Grenz‑ und Asylpolitik soll aus beiden theoretischen Perspektiven kurz beleuchtet und erklärt werden.1
Die Theorie des Neofunktionalismus stammt aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen, die sich damit befasste, welche Art der Kooperation (wirtschaftlich, politisch) zur Friedenssicherung bzw. zunächst einmal zur Vertrauensbildung nach den Weltkriegen beitragen könnte (Deutsch 1954; Haas 1958;