Im Gemeinschaftsrecht erlebte die Justiz‑ und Innenpolitik einen großen Entwicklungsschritt mit dem Entwurf für den Verfassungsvertrag, der später ohne große Änderungen in den Vertrag von Lissabon integriert wurde.4
Vervollständigt wurde der Ansatz schließlich mit dem Vertrag von Lissabon, der Gesetzgebung zu Einreise, Einwanderung und Asyl in den supranationalen Entscheidungsmodus überführte und die Schaffung eines integrierten Grenzkontrollsystems forderte, wodurch weitgehende gemeinschaftliche Kooperationen zum Grenzschutz im Rahmen europäischer Rechtsetzung ermöglicht wurden (Art. 77-80 AEUV).
2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist
Im vorherigen Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass die Kooperation der ursprünglichen Schengenstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg den Beginn und die Notwendigkeit für die europäische Grenz‑ und Asylpolitik geschaffen hat.
Es ist bemerkenswert, dass die Verwirklichung eines zentralen Vertragsziels der Römischen Verträge – nämlich die Grundfreiheit der Personenfreizügigkeit zu realisieren und durch die Abschaffung von Binnengrenzkontrollen den Handel und Austausch zu erleichtern – zunächst im völkerrechtlichen Rahmen statt im Rechtsrahmen der Wirtschaftsgemeinschaft geschehen ist.
Im Folgenden wird genauer beleuchtet, wie das Schengener Abkommen entstanden ist, welche Implikationen es für die heutige Grenz‑ und Asylpolitik hat und weshalb Schengen aus integrationstheoretischer Perspektive als spill-over-Beispiel europäischer Integration gelten kann.
Besonders interessiert die Entstehung der sogenannten Dublin-Kriterien, die im Rahmen der Schengener Kooperation ausgearbeitet wurden und bis heute sowohl Anker als auch größter Streitpunkt der europäischen Asylpolitik sind.
2.2.1 Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten
Den Grundstein für den heutigen Schengenraum legten der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand mit einem bilateralen Regierungsübereinkommen, das die Erleichterung bei den Kontrollen an den deutsch-französischen Grenzen vorsah. Diesem Projekt schlossen sich Belgien, Niederlande und Luxemburg an, die zu diesem Zeitpunkt untereinander bereits seit 25 Jahren auf Grenzkontrollen verzichteten.
Die ersten fünf Staaten des Schengenraums waren Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auch wenn es sich um zwei bevölkerungsreiche und drei kleine Staaten handelte, ähnelten sich die fünf Staaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht stark: Es handelte sich um gewachsene liberale Demokratien mit solider Wirtschaftskraft und stabilen Sozialsystemen. Divergenzen waren eher marginal und betrafen die Wirtschaftsbereiche, die zentral für den Wohlstand der Staaten waren. Auch die Größe des gemeinsamen Raums spielte eine Rolle: Zu Beginn der Schengenkooperation verfügte – mit der Ausnahme Luxemburgs – jeder Schengenstaat über eine Außengrenze, deren Übertreten die Einreise in den gesamten Schengenraum bedeutete.
Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen, einem kleinen Ort in Luxemburg, der unmittelbar an Frankreich und Deutschland grenzt, ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, dass Binnengrenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ohne Personenkontrollen überquert werden können. Seither wird der dadurch geschaffene grenzfreie Raum als Schengenraum bezeichnet. Die Reisefreiheit sollte es fortan BürgerInnen, Geschäftsreisenden, Touristen, Migranten und Asylsuchenden ermöglichen, sich frei im Schengenraum zu bewegen.
Das Schengener AbkommenSchengener Abkommen war ein völkerrechtlicher Vertrag, der außerhalb der bestehenden europäischen Rechtsgemeinschaft geschaffen wurde. Das zeigt sich bis heute daran, dass es einerseits Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt, die nicht zum Schengenraum zählen (z.B. Irland), andererseits Schengenmitglieder, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind (Island, Norwegen, Schweiz) und drittens Schengen-Anwärterstaaten (Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Zypern), die noch nicht voll in Schengen integriert sind.
Rechtlich wurde der Schengener Besitzstand mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Beschluss des Rates vom 20. Mai 1999 in das Recht der Europäischen Union überführt (1999/435/EG). Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist das Schengenrecht inzwischen Unionsrecht, während es für die darüber hinaus anwendenen Schengenstaaten internationales Recht bleibt.
Zur Verwirklichung der Abschaffung von Binnengrenzkontrollen brauchte es detaillierte technische Absprachen wie Fragen und Konflikte geregelt werden, die sich aus dem neuen gemeinsamen Schengenraum ergeben. Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens wurde schließlich das Schengener Durchführungsabkommen unterzeichnet (SDÜ bzw. Schengen III), das Maßnahmen zur Sicherheit, zum Außengrenzschutz, zur polizeilichen Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fällen enthielt. Zudem wurde ein Fahndungssystem eingerichtet (Schengener Informationssystem, auch SIS abgekürzt) und grundsätzliche gemeinsame Regeln bei der Einreise von Touristen, Geschäftsreisende und Asylsuchenden festgelegt.
Im Schengener Durchführungsabkommen wurde auch die Zuständigkeitsfrage in Asylfragen geregelt. Das Dubliner Übereinkommen, das auch als Dublin-System bekannt ist, enthielt eine Liste von Kriterien zur Feststellung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates. In diesem Übereinkommen betonten die Schengenstaaten, dass es „faire“ und „objektive“ Kriterien seien, die die Zuständigkeit genau eines Mitgliedstaates präzise festlegen. Bis dato wurden Asylverfahren dort durchgeführt, wo Asylanträge eingereicht wurden. Von nun an sollte dem tatsächlichen Verfahren eine Prüfung vorausgehen, in dem nach klaren Kriterien festgestellt wurde, welcher Mitgliedstaat des Schengenraums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war.
Übergreifend galt, dass derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig wurde, zu dem der Antragsteller die engste rechtliche Verbindung aufwies. Eine solche bestand eindeutig, wenn ein Mitgliedstaat für den Antragsteller ein Visum ausgestellt hatte. Eine indirekte rechtliche Verbindung bestand, wenn Verwandte des Antragstellers bereits in einem Mitgliedstaat ein Asylverfahren durchliefen oder bereits als Flüchtlinge anerkannt waren. Im Sinne des Familienschutzes übernahm dieser Mitgliedstaat dann alle Anträge der Familienmitglieder. In den meisten Fällen wurde allerdings derjenige Staat zuständig, in dem der Asylbewerber erstmalig in den Raum der Wirtschaftsgemeinschaft eingereist war, das sogenannte Ersteinreiseprinzip. Die Staaten einigten sich damit faktisch auf das Ersteinreiseprinzip als Hauptkriterium zur Bestimmung der juristischen Zuständigkeit für ein Antragsverfahren.
Nun ist zu berücksichtigen, dass sich die politische Geographie des Schengenraumes in den 1990er Jahren ebenso wie Migrationsbewegungen nach Europa noch ganz anders darstellten als heute. Damals war die schnelle, präzise und eindeutige Bestimmung desjenigen Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig war, ein Randthema des Binnenmarktprojektes (Lavenex 2001: 860). Diese Situation hat sich inzwischen umgekehrt: die Zuständigkeitsfrage Asyl ist spätestens seit 2015 im politischen Zentrum der Gemeinschaft angekommen.
Was sind die Gründe dafür? Zum einen ist der Schengenraum in der Zwischenzeit von fünf auf 26 Vollanwenderstaaten angewachsen. Die Außengrenzen haben sich damit aus einem homogenen Zentrum in einen heterogenen Peripheriebereich verlagert. Die vormals allesamt über Land zu erreichenden Schengenstaaten sind nun umschlossen von Nachbarstaaten, dies trifft insbesondere auf Deutschland zu, bereits in den 1990er Jahren ein wichtiges Zielland für Asylsuchende.
Zum anderen kann Asyl nur in einem Staat beantragt werden. Diese territoriale Dimension wird durch das Ersteinreiseprinzip verstärkt. Da es keine rechtlichen Zugangsmöglichkeiten für Asylsuchende gibt, ist eine irreguläre Enreise oft der einzig mögliche Zugang. Die Einreise ohne die dafür notwendigen Papiere und eine nachträgliche Rechtfertigung dieser nicht-dokumentierten Einreise durch Stellung eines Asylantrags ist völkerrechtlich von der Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt.1
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