Was ist der rechtliche Status des Schengen-Besitzstandes?
Mit dem Vertrag von Amsterdam ist der bis dahin entwickelte Schengener Besitzstand mit dem Schengener Abkommen, Durchführungsübereinkommen, Dublin Übereinkommen und Visakodex durch ein Protokoll in Gemeinschaftsrecht überführt worden. Irland und Dänemark erwirkten für sich Sonderregelungen. Während sich Irland dem SchengenraumSchengenraum komplett entzieht, hat Dänemark eine Sonderposition ausgehandelt, wonach Dänemark über jeden einzelnen durch den Rat beschlossenen Schengen-Rechtsakt entscheidet, ob es diesen in nationales Recht umsetzt.
Aufgrund der komplexen Komposition des Schengenraumes handelt es sich um eine Form der verstärkten ZusammenarbeitVerstärkte Zusammenarbeit, die zwar formal alle Mitgliedstaaten umfasst, gleichzeitig jedoch de jure und damit auch de facto Ausnahmeregelungen zulässt, die für einen uneinheitlichen gemeinsamen Raum sorgen (Thym 2016: 32, Rn 2).
Viele zunächst zwischenstaatlich beschlossene Regeln wurden inzwischen durch europäische Rechtsinstrumente ersetzt, was zeigt, dass das Schengenrecht reguläres Unionsrecht geworden ist (Thym 2016: 32, Rn 2). Zu den wichtigsten Rechtsinstrumenten zählen in Folge des Amsterdamer Vertrags der Schengener Grenzkodex (Verordnung (EG) Nr. 562/2006 v. 15.3.2006, ABl. Nr. L 105/1, inzwischen Verordnung (EU) 2016/299 v. 9.3.2016, ABl. Nr. L 77/1 v. 23.3.2016, letzte Änderung v. 11.6.2019) und der Visakodex (Verordnung (EG) Nr. 810/2009 v. 13.7.2009, ABl. Nr. L 243/1 v. 15.9.2009, letzte Änderung v. 12.4.2016).
Welche Rolle spielt Sicherheit im Schengenraum?
Die ursprünglich von den Gründerstaaten für eine Handvoll Schengenstaaten eingeführten flankierenden MaßnahmenFlankierende Maßnahmen im Bereich Visa, Einwanderung, Asyl und Grenzschutz sind inzwischen zum Rückgrat der Zusamenarbeit im Bereich europäischer Justiz‑ und Innenpolitik geworden (Thym 2016: 33, Rn 3).
In der Literatur wird dieser Prozess als VersicherheitlichungVersicherheitlichung beschrieben und kritisiert, weil die Innenminister die Politikgestaltung in diesem Bereich stark geprägt haben mit ihrem Fokus auf Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung (dazu ursprünglich Guiraudon 2000; rezipiert von Parkes 2010; Kaunert und Léonard 2012). Daniel Thym wendet ein, dass die Justiz‑ und Innenpolitik im Zuge der schrittweisen Überführung des Politikbereichs in einen Entscheidungsmodus, der die qualifizierte Mehrheit und die Beteiligung des Parlaments erfordert, weniger stark von sicherheitspolitischen Überlegungen gekennzeichnet ist (Thym 2016: 33, Rn 3).
Spätestens im Zuge der Terroranschläge von Paris im Januar und November 2015 ist die Sicherheitsthematik wieder stärker in den Vordergrund der Schengenpolitik gerückt. Frankreich führte mit Verweis auf die Terrorgefahr wieder Grenzkontrollen ein. Im Zuge der MigrationskriseMigrationskrise von 2015/2016 führten zudem Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen wieder Grenzkontrollen mit Verweis auf die nationale SicherheitNationale Sicherheit ein.
Gemäß Schengenrecht ist die Wiedereinführung von GrenzkontrollenGrenzkontrollen rechtmäßig, sofern diese „unter außergewöhnlichen Umständen“ durchgeführt und „für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung“ (VO (EU) 2016/399, Art. 25 Abs. 1) beschränkt sind. Sollte eine Bedrohungslage länger andauern, so können die Grenzkontrollen jeweils um 30 Tage verlängert werden. Der Gesamtzeitraum, in dem Kontrollen an Binnengrenzen durchgeführt werden, sollte jedoch zwei Jahre nicht überschreiten (Art. 25 Abs. 4 VO (EU) 2016/399). In Deutschland, Frankreich, Schweden und Dänemark dauern punktuelle Grenzkontrollen jedoch bereits seit 2015/2016 an.
3.1.2 Strategische Ziele im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Mit dem Schengener AbkommenSchengener Abkommen ist die Außengrenzsicherung für alle am Schengenraum teilnehmenden Staaten zu einem Thema gemeinsamen Interesses geworden. Notwendigerweise braucht es Übereinkünfte dazu, wie die Grenzsicherung aussehen soll.
Die strategische Planung in diesem Politikbereich obliegt dem Europäischen Rat und damit den Staats- und Regierungschefs, nicht der Europäischen Kommission (Art. 68 AEUV). Diese Strategien wurden in Mehrjahresprogrammen von den Staats‑ und Regierungschefs festgehalten (ausführlich: Dreyer-Plum 2017: 172-184).
Das erste Strategiepapier: Programm von Tampere (1999)
Das erste Programm dieser Art war das Programm von TampereProgramm von Tampere (Europäischer Rat 1999). Dieses Strategieprogramm erarbeiten die Staats‑ und Regierungschefs im Europäischen Rat in Folge des Amsterdamer Vertrags, dem ersten Vertrag der gemeinschaftliche Politikziele für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorsah (Art. 61 EGV-Amsterdam). Das Programm von Tampere enthielt innen‑ und justizpolitische Ziele für den Zeitraum 2000 bis 2004.
Dem Freiheitsgut der UnionsbürgerUnionsbürger wurde hohe Priorität eingeräumt. Das Freiheitsprinzip sollte nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs Grundlage für die gesamte Innen‑ und Justizpolitik sein. Freiheit ist nicht selbstverständlich und gilt in der Gemeinschaft als hohes politisches Gut:
„Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen. Dies erfordert wiederum, daß die Union gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitiken entwickelt und dabei der Notwendigkeit einer konsequenten Kontrolle der Außengrenzen zur Beendung der illegalen Einwanderung und zur Bekämpfung derjenigen, die diese organisieren und damit zusammenhängende Delikte im Bereich der internationalen Kriminalität begehen, Rechnung trägt.“ (Programm von Tampere, Einleitung)
Hier wird die enge Verwebung von Einreise und Asyl, Kriminalität und Migration vor dem Hintergrund der Grenzsicherung deutlich. Mit konkretem Bezug zur Grenzpolitik wurden drei Prioritäten formuliert:
1 Partnerschaft mit Herkunftsländern von Asylsuchenden und Migranten; bessere Bedingungen in Heimatstaaten schaffen, um Einwanderung zu reduzieren (§§ 11-12).
2 Gemeinsames Europäisches AsylsystemGemeinsames Europäisches Asylsystem schaffen: Anwendung Genfer Flüchtlingskonvention durch Anerkennung Nichtzurückweisungsprinzip, außerdem gemeinsame Standards bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen; gleiche Kriterien bei der Entscheidung über Asylanträge (§§ 13-17).
3 Migrationsströme effizient steuern: Informationskampagnen in Transit‑ und HerkunftsstaatenHerkunftsstaaten durchführen, Kriminalität in der Migration bekämpfen (Schlepper, die aus der Not der Asylsuchenden Profit schlagen); Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten (§§ 22-27).
Es folgte das Haager ProgrammHaager Programm aus dem Jahr 2004, das für den Zeitraum 2005 bis 2009 ausgearbeitet wurde.
Programm von Den Haag (2004): Sicherheit und Grundrechtschutz
Einige politische Ziele des Programms von Tampere waren bereits erreicht: die Dublin-Verordnung, die Aufnahme‑ und Anerkennungsrichtlinie waren verabschiedet worden, drei wesentliche Elemente des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Damit wurden erste Ziele des Amsterdamer Vertrags und des Programms von Tampere verwirklicht. Auch bei der Harmonisierung der Grenzkontrollen stellte der Europäische Rat Fortschritte fest.
Entworfen wurde das Haager Programm unter dem unmittelbaren Eindruck der Anschläge auf Madrid im März 2004, ebenso wie der Terroranschläge auf die USA im Jahr 2001. Es überrascht daher wenig, dass das