Zu Latour sagte sie: »Was ist mit dem Sohn des Toten? Hat er seinen Dienst als Lehrer wieder angetreten?«
»Er kam gestern, aber heute findet die Beerdigung seines Vaters statt, für die ich ihn wieder freigestellt habe.«
»Wenn er sich morgen zum Dienst einfindet, reden Sie mit ihm. Das Päckchen muss im Nachlass seines Vaters zu finden sein. Wenn es etwas enthält, das ich als Kaiserin schützen soll, so werde ich den Willen des Mannes gerne erfüllen.«
Elisabeths Neugier war erwacht. Die Strenge des Hofes schien verschwunden und sie fühlte sich so lebendig wie damals, als junges Mädchen in Bayern.
Was war sie doch für ein mutiges Kind gewesen. Sogar auf das Trapez hatte sie sich gewagt, das ihr Vater im Hof hatte aufhängen lassen. Wild war Sisi hin und her geschwungen. Sie wollte besser sein als die Artisten im Zirkus. Ihr Sturz hätte damals auch tödlich enden können. Die Mutter hatte die Akrobatik danach streng verboten. Doch die Aussicht auf Gefahr hatte Sisi nie geängstigt. Vielmehr war sie ihr immer Ansporn gewesen.
Nachdem Latour und Ida das Appartement verlassen hatten, beschloss Elisabeth, sich noch körperlich zu ertüchtigen. Der Nebenraum war ihren Wünschen entsprechend dafür eingerichtet worden.
Es gab Ringe an Seilen, eine Sprossenwand, Gewichte und ein Turngerät, das »Pferd« genannt wurde.
Wenn sie sich in den Ringen aufstützte und schwang, fühlte sich Elisabeth in ihre glückliche Kinderzeit versetzt. Das dunkle Gewand, das sie an diesem Tage trug, wehte um ihre Beine. Sie sah aus wie ein schwarzer Paradiesvogel mit langen Federn.
Sie war wieder Sisi. Sie fühlte sich frei.
Alexander stützte seine Mutter. Sie war seit dem Tod ihres Mannes in sich zusammengesunken und oft überkamen sie unkontrollierte Weinkrämpfe.
Familie Oberland besaß auf dem St. Marxer Friedhof ein Grab, in dem bereits Alexanders Großeltern beerdigt worden waren. In den grauen Grabstein waren bei der Errichtung die Namen seiner Eltern und ihre Geburtsjahre eingehauen worden. Bei ihrem Tod musste nur noch die Jahreszahl ergänzt werden.
ALFRED OBERLAND
1814 -
MARGARETHE OBERLAND
1817 -
Nie hätte Alexander gedacht, dass 1866 als Todesjahr eines Elternteils auf dem Stein stehen würde. Als Kind hatte er die Eltern für unsterblich gehalten und als Erwachsener waren ihm beide stets gesund vorgekommen.
Der Arzt der Familie hatte den Tod einen Unfall genannt. »Das Gift der Bienen ist nicht zu unterschätzen«, hatte er doziert. »Im Fuß oder in der Hand führt es zu Schwellungen, die jeder schon einmal erlebt hat. Sie geben eine Vorstellung, was sich in der Nase oder im Rachen abspielen kann.«
Alexander hätte den Arzt am liebsten aus dem Haus geworfen. Seine Mutter hatte heftig geschluchzt. Der geliebte Vater und Ehemann war tot, von einer Minute auf die andere aus dem Leben gerissen. Doch der Arzt hörte nicht auf, zu reden und Erklärungen abzugeben. Mitgefühl schien er nicht zu kennen.
Während der Trauerzug dem Sarg zum Grab folgte, musste Alexander immer wieder an den Moment denken, an dem sein Vater zusammengebrochen war. Er hatte sofort geahnt, dass der Vater tot war. Seine Augen hatten starr ins Leere geblickt und schnell ihren Glanz verloren.
Immer wieder liefen diese Momente und Bilder in seinem Kopf ab. Alexander konnte sie nicht verdrängen.
Seine Mutter stolperte und Alexander konnte sie gerade noch auffangen. Er drückte ihren Arm an sich.
Hinter ihnen hörte Alexander die knirschenden Schritte der Trauergäste und hin und wieder ein kurzes Schluchzen. Sein Vater war angesehen gewesen, auch wenn er die Zurückgezogenheit liebte. Zum Begräbnis waren Leute gekommen, denen Alexander nie zuvor begegnet war. Sie hatten sich als Kollegen aus der Hofbibliothek und als Historiker der Universität vorgestellt. Sein Onkel, seine Tante, zwei Cousinen, einige Freunde und Bekannte waren auch unter den Trauernden. Alle vereinte die Erschütterung über den unerwarteten Tod von Alfred Oberland.
Als sie das offene Grab erreichten, blieb der Pfarrer neben dem Erdhügel stehen. Vier Männer des Bestattungsunternehmens, in schwarze Gewänder gehüllt, hoben den Sarg vom Wagen, den sie selbst gezogen hatten. Der Priester begann, die Worte der Einsegnung zu sprechen.
Ein leichter Wind strich über die Trauergemeinde hinweg und ließ das Gewand des Pfarrers flattern. Alexander überkam ein Gefühl von unendlicher Einsamkeit. Natürlich hatte er noch seine Mutter, aber der Vater war der wichtigste Mensch in seinem Leben gewesen.
Alexander war ein kranker und schwächlicher Junge gewesen. In der Schule war er wegen seiner zarten Glieder und Blässe verspottet worden. Sein Vater hatte ihn immer getröstet und versichert, auch in einem Kind wie ihm steckten viele Talente. Er hatte seine Wissbegier und seine Freude am Lesen gefördert und ihn ständig mit Büchern versorgt.
Wenn andere seines Alters feierten, tranken und tanzten, ging Alexander nicht mit. Ihm fehlte der Mut dazu. Er bekam einen roten Kopf, wenn er mit einem Mädchen sprach, und da sein linkes Bein ein wenig kürzer war und er hinkte, traute er sich nicht zu tanzen. Als sein Vater noch lebte, war Alexander nie allein gewesen. Was aber sollte nun werden?
Bei den Worten des Geistlichen spürte Alexander Bitterkeit in sich hochsteigen. Trost empfand er keinen, wenn er von Vorausgehen und Auferstehung und dem versprochenen Wiedersehen hörte. Sein Vater, sein geliebter und hoch geschätzter Vater, war nicht mehr unter ihnen und er würde ihn nie wieder um Rat fragen können. Er hatte einen wahren Freund verloren. Seinen einzigen Freund.
Weil er es nicht ertrug, den Sarg anzusehen, ließ er den Blick in die nächsten Reihen des Friedhofs schweifen. Wie mahnende Kreaturen erschienen ihm die Grabsteine, die in regelmäßigen Abständen nebeneinanderstanden. Mit lautem Krächzen flatterten ein paar Krähen auf. Alexander blickte in die Richtung, aus der ihre Schreie gekommen waren.
Hatte er richtig gesehen? War dort jemand? Ihm kam es vor, als hätte sich jemand hinter einem dunklen Grabstein geduckt. Er zählte. Das Grab war drei Reihen entfernt und wurde von einer Weide beschattet. Auf den Grabstein stütze sich, seitlich nach vorne gebeugt, eine steinerne Figur in Kutte und mit weiter Kapuze.
Hatte von dort drüben jemand zu ihnen herübergeblickt?
Alexander ließ das Grabmal nicht aus den Augen.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«, hörte er den Pfarrer sagen.
»Amen«, antwortete die Trauergemeinde.
Noch immer fixierte Alexander die Stelle, an der er die Bewegung wahrgenommen hatte. Wer sich von seinem Vater verabschieden wollte, musste sich doch nicht verstecken.
Seine Mutter löste sich von seinem Arm und machte einen Schritt nach vorne. Alexander blieb stehen, den Blick weiter starr auf das Grab gerichtet.
»Herr Oberland«, sagte der Pfarrer mit ernster Stimme.
Alexander zuckte, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Einer der Schwarzgekleideten streckte ihm eine kleine Schaufel mit Erde entgegen. Alexander trat vor, ergriff sie und ließ die Erde auf den Sarg in der Grube fallen. Als die Erde auf den Sarg prasselte, erschauderte er. Es war, als verschüttete er einen Teil von sich selbst.
Seine Mutter und er wurden ein paar Schritte weitergeschoben. Jemand erklärte murmelnd, sie sollten hier