Schließlich klopfte ihm der Professor beim Aufstehen auf die Schulter. »Du kannst immer zu mir kommen. Mit allen Sorgen und Nöten. Vergiss das nie, Xandi.«
»Danke. Ich weiß das sehr zu schätzen. Besonders in dieser Zeit…«
Lobmüller setzte sich wieder und blickte Alexander besorgt an. »Was willst du damit andeuten?«
Scham und Enttäuschung gaben Alexander das Gefühl, noch kleiner und dünner zu werden, als er ohnehin schon war. »Ich hätte das nicht sagen sollen«, meinte er ausweichend.
»Da du es aber nun gesagt hast, will ich gerne wissen, was dich so bedrückt?«
Ihm blieb kein Ausweg. Alexander erzählte, dass er sich um eine Stelle am Institut für Biologie der Universität beworben hatte, aber nicht genommen worden war.
Außerdem hatte er der Schwester einer seiner wenigen Freunde einen Brief geschrieben und ihr seine Zuneigung gestanden. Durch Zufall hatte er bei seinem nächsten Besuch ein Gespräch mitbekommen, das sie mit einer Freundin führte und in dem sie sich über Alexander lustig machte.
»Wie kommt er nur auf die Idee, ich könnte Interesse an ihm haben?«, hatte sie gesagt. »Er wirkt wie eine Vogelscheuche.«
»Mein armer Junge. Frauen können hart und ungerecht sein.«
Alexander spielte mit dem Bierkrug. »Ihrem Bruder, von dem ich dachte, er wäre mein Freund, habe ich Geld geliehen. Ich werde es wohl nie zurückbekommen, wie es aussieht. Einer wie ich hat wohl kein Glück.«
»Das solltest du nicht einmal denken. Das Leben hält vieles für uns bereit«, philosophierte Lobmüller vor sich hin. »Manchmal Freuden, oft aber Enttäuschung und Trauer. Am Ende steht die Frage, wie viele Hoffnungen sich erfüllt haben und wie viele nicht. Auf welche Seite neigt sich diese Waage?«
Alexander leerte den Bierkrug mit einem Zug. Er glaubte zu wissen, auf welche Seite sich seine Waage neigte.
Für den Weg zu Amalie Buback hatte Ida einen Fiaker genommen. Die Kaiserin hatte ihr angeboten, beim Obersthofmeister eine Kutsche für sich zu bestellen, aber Ida hatte dankend abgelehnt. Denn die Kutscher redeten untereinander. Sie tratschten darüber, wo sie die Hoheiten, Erzherzöge und die Hofangestellten hinbrachten. Idas Besuch bei der Photographin war nichts Verbotenes, könnte aber trotzdem zu unangenehmen Fragen führen. Am Hof wurde das Ablichten ausschließlich von Ludwig Angerer durchgeführt, dem k.k. Hof-Photographen. Auf private Bilder wollte Ida sich nicht ausreden. Der wahre Grund für ihren Besuch bei Amalie Buback musste unter allen Umständen geheim bleiben.
Der Tag war kühl, die Wolken am Himmel machten den Eindruck, als wollten sie demnächst ihre Regenlast abwerfen.
Ein Geruch, der Ida schon lange nicht mehr in die Nase gestiegen war, schlug ihr entgegen, als sie das Atelier betrat. Der Geruch löste in Ida eine Erinnerung an ihre Kindheit aus. Sie saß als kleines Mädchen beim Gutsverwalter ihrer Eltern. Er trug immer dicke Arbeitshosen und weite Hemden, die von breiten Hosenträgern gehalten wurden. Ida suchte ihn auf, weil es bei ihm die besten Würste gab. Es war fettige Wurst, die er mit einem Taschenmesser in dicken Scheiben schnitt. Mit einem breiten Grinsen reichte er ihr die Wursträder, die sie mit Genuss verspeiste. Ihre Mutter hatte sie deshalb gescholten. Sie solle nicht dem Mann sein Essen wegnehmen, sondern essen, was bei ihnen auf den Tisch kam.
Das war gesünder als die grobe Wurst, schmeckte Ida aber nicht so gut.
Der Verwalter, ein rotwangiger, korpulenter Mann, hatte Pfeife geraucht und in seiner kargen Wohnung neben den Ställen hing immer Rauch in der Luft.
An diesem Tag schwebten genau die gleichen dünnen Rauchschwaden im Licht, das durch das Glasdach ins Atelier fiel.
»Haben Sie Kundschaft?«, wollte Ida von Peter wissen.
»Nein.«
»Der Rauch…?«
Peter zeigte auf einen Lehnsessel. Er stand mit dem Rücken zu Ida. Dahinter stieg der Pfeifenrauch auf. Sie ahnte, wer da rauchte. Ida trat vor den Sessel.
Amalie hielt eine gebogene Pfeife mit weißem Kopf in der Hand, sah beim großen Fenster hinaus und paffte. Als sie Ida bemerkte, stieß sie den Rauch wie eine Dampflokomotive aus dem Mund aus. Ihr Lächeln hatte etwas Spitzbübisches.
»Schickt sich nicht, was?«, fragte sie mit provokantem Unterton.
»Die Kaiserin raucht auch Zigarette«, antwortete Ida kühl.
Interessiert setzte sich Amalie auf. »Die Kaiserin von Österreich tut etwas so Unschickliches? Das erlaubt ihr unser ehrwürdiger Kaiser?«
»Nein. Er verabscheut es. Die Kaiserin nimmt darauf Rücksicht. Sie raucht nur auf Kutschenfahrten.«
»Da sieht es keiner«, spottete Amalie.
»Im Gegenteil. Sie sitzt am Fenster der Kutsche und bläst den Rauch hinaus, damit es jeder sehen kann.«
Amalie Buback richtete sich nun interessiert auf. »Tatsächlich?«, fragte sie misstrauisch. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich bin Hofdame der Kaiserin.«
»Jetzt einmal langsam.« Ida konnte sehen, wie sich Verständnis in die Augen der Photographin schlich. Sie erkannte, für wen ihre Aufnahmen der schönen Leichen bestimmt waren.
Ida weidete sich an Amalies Erstaunen. Sie sollte nicht meinen, die einzige Frau in Wien zu sein, die unkonventionell leben konnte.
Ihre Aussage brachte die gewünschte Wirkung. Die Photographin erhob sich und klopfte über die Hosenbeine, als müsse sie Staub entfernen. »Ich neige mein Haupt in Ehrfurcht und Bewunderung.« Für ihre Verhältnisse klang es nicht zynisch. »Leider habe ich noch keine neuen Aufnahmen von Leichen.«
»Das ist nicht der Grund meines Besuches.« Ida holte aus der Tasche das Foto von Alfred Oberland. Sie sah sich um. »Können wir uns irgendwo setzen?«
Amalie schnippte mit den Fingern. »Peter. Zwei Sessel. Und den Tisch!«
Wie ein Piccolo im Kaffeehaus schleppte der Bursche einen kleinen runden Tisch mit Marmorplatte herbei. Solche Tische waren typisch für Wiener Kaffeehäuser. Die Sessel waren aus dem neumodischen Bugholz der Firma Thonet, die gerade sehr in Mode war. Ida gefielen die Sessel überhaupt nicht.
Die Frauen nahmen Platz. Amalie verlangte Kaffee, Ida Wasser.
Peter brachte eine Karaffe und zwei einfache Gläser. »Der Kaffee dauert noch«, sagte er.
Ida legte das Foto vor Amalie auf den Tisch.
»Keine gute Aufnahme«, meinte die Photographin. »Das Licht kommt zu steil von oben. Die Konturen sind nicht markant.«
»Ihr Helfer hat erzählt, Sie hätten dem Mann den Mund geöffnet.«
»Habe ich das?«
»Er behauptet es. Und Sie fanden etwas eigenartig.«
Amalie nahm einen Schluck Wasser und nickte. »Richtig. Der Tod durch Bienenstich erscheint mir eigenartig.«
»Der Kaiserin wurde aber berichtet….« Ida brach im Satz ab.
Amalie hob eine Augenbraue. »Wieso interessiert sich die Kaiserin für einen toten Imker?«
Warum hatte sie den Mund nicht halten können? »Der Kronprinz und Erzherzogin Gisela waren von ihrem Lehrer zu dem Mann geführt worden, um die Tätigkeit eines Imkers kennenzulernen. Sie waren anwesend, als er starb«, berichtete Ida.
»Ein Bienenstich war jedenfalls nicht der Grund für seinen Tod«, sagte Amalie.
»Woher