»Er ist tot.«
»Wer ist tot?«, fragte Elisabeth erschrocken.
Rudolf und Gisela schluchzten wieder leise.
Latour wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Majestät, auf unserem heutigen Ausflug zu Studienzwecken waren die kaiserlichen Hoheiten unglücklicherweise Augenzeugen eines bedauerlichen Unfalls.«
»Wie fürchterlich.« Elisabeth wollte fragen, wer ums Leben gekommen war, aber es erschien ihr besser, damit zu warten, bis sie mit Latour allein war.
»Als wir ins Schloss zurückkamen, wollten die Hoheiten sofort zu Ihnen und ich konnte ihnen diese Bitte nicht verwehren.«
»Natürlich nicht.« Die Kaiserin sah ihre Kinder mitfühlend an. »Meine armen Lieblinge.«
Rudolf und Gisela waren bleich und wirkten müde.
Latour erhob sich. »Wenn ich vorschlagen dürfte, die Hoheiten gleich in ihre Zimmer zu bringen. Ruhe wäre fürs Erste das Beste.«
Elisabeth nickte zustimmend. Sie winkte die Kinder zu sich, breitete die Arme aus und drückte die beiden zum Abschied kurz und zart. Danach verließen sie mit Latour den Raum.
Elisabeth blickte eine Weile auf die geschlossene Tür und drehte sich dann wieder zum Schreibtisch. Dort lag der angefangene Brief. Sie hatte gehofft, die Zeilen an ihre Schwester Helene würden ihr helfen, mit der Schwermut des heutigen Tages besser zurecht zu kommen. Neun Jahre, dachte Elisabeth. Neun Jahre ist es nun schon her. Und die Trauer wird nicht leichter.
Es klopfte und der Diener brachte auf einem Tablett drei Gläser Limonade. Nachdem er gegangen war, zerriss sie den Brief und ließ die Stücke auf dem Tisch liegen. Was sie nun brauchte, war Bewegung und frische Luft. Gerne hätte Elisabeth mit Ida über alles gesprochen, aber ihre Vertraute würde erst später am Nachmittag ins Schloss zurückkehren. Sie war noch unterwegs, um schöne Leichen zu besorgen.
Elisabeth wollte ihr Appartement nicht durch das Gardezimmer verlassen. Schon oft hatte sich ihre Idee als nützlich erwiesen, eine Wendeltreppe einbauen zu lassen, die das Schreibzimmer mit ihrem Gartenappartement im Erdgeschoss verband. Unbemerkt konnte sie auf diesem Weg das Schloss verlassen.
»Komm, Houseguard«, sagte Elisabeth und klatschte in die Hände. Mit einer Hand hielt sie die Schleppe des Kleides hoch, die andere lag auf dem Geländer. Die Mode der weiten Röcke machte das Treppensteigen nicht gerade einfach. »Wir machen einen Spaziergang!«, rief sie dem Wolfshund zu.
Latour würde sie finden, wenn er sich um die Kinder gekümmert hatte, um ihr von den Ereignissen zu berichten. Hier aber wollte sie nicht bleiben.
Houseguard zögerte. Elisabeth wusste, dass ihm die offenen Stufen unheimlich waren. Die Aussicht auf den Spaziergang war aber verlockend. Einen Augenblick später hörte sie seine Krallen auf dem Metall der Treppe kratzen.
Der schlichte Ziegelbau, vor dem Ida stand, erinnerte an eine Fabrik. Neben der Tür hing ein blank poliertes Messingschild. Ida studierte die Inschrift. Sie hatte gefunden, was sie suchte. Aber was nun? Sie betrachtete nachdenklich die lange Metallstange mit Griff, die zur Türglocke gehörte.
Ida zögerte. Sie konnte unter keinen Umständen einfach anläuten und nach schönen Leichen verlangen. Schon gar nicht so, wie sie aussah. Ihre feine Kleidung und der Sonnenschirm, den sie auf der Schulter trug, verrieten, dass sie nicht aus dieser Gegend war. Bevor sie ihren Wunsch vortrug, wollte sie Amalie Buback erst einmal kennenlernen und prüfen. Die Frau musste verschwiegen sein. Sie könnte herausfinden, in wessen Auftrag Ida unterwegs war. Unter allen Umständen musste sie Tratsch über Elisabeths Wunsch nach schönen Leichen vermeiden.
Schließlich gab sich Ida einen Ruck und zog am Griff. Drinnen hörte sie eine Glocke schellen. Erwartungsvoll blickte sie zur Tür. Niemand öffnete. Nach einer Minute klingelte sie erneut und schließlich ein drittes Mal. Aber niemand kam.
Was sollte sie tun? Der Fiaker, der sie von Schönbrunn nach St. Marx gebracht hatte, wartete an der Ecke. Der Kutscher lehnte beim Vorderrad und hatte die Arme verschränkt. Er starrte nicht in ihre Richtung, aber Ida war sicher, er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie hatte den ganzen Weg vergeblich gemacht.
Ein Bursche kam die Straße heruntergelaufen. Er hielt mit der Hand seine Kappe auf dem Kopf, damit sie nicht herunterfiel. Das einfache, weite Hemd und die etwas zu kurzen Hosen ließen vermuten, dass er ein Handwerker war.
Vor Ida blieb der Bursche stehen. »Wollen Sie zu ihr?« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür.
»Ich möchte mit Amalie Buback sprechen«, erwiderte Ida.
»Sie ist auf dem Friedhof.«
»Auf dem Friedhof? Nicht in ihrem Atelier?«
»Wir haben einen, der sich erschossen hat und gleich eingegraben wird. Ich muss die größere Kamera bringen. Was weiß ich, wieso. Sie ist da immer sehr heikel.« Er steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. »Sie können drinnen warten, wenn Sie fotografiert werden wollen.«
»Es geht nicht um ein Foto von mir, sondern…« Ida brach ab und fuhr nach einer kleinen Pause fort. »Ich muss persönlich mit Amalie Buback sprechen. Daher möchte ich, dass Sie mich zu ihr führen.«
Wieder zuckte der Bursche mit der Schulter. »Ich hole die andere Kamera.« Er verschwand im Haus.
Durch die offene Tür sah Ida in einen großen, hellen Raum. Licht flutete durch die hohen Fenster und das verglaste Dach. Verschiedene Sitzmöbel standen herum. Bei einem Stuhl ragte eine Stange aus der Lehne, an deren Ende sich eine halbrunde Halterung befand.
Ida hatte so etwas schon einmal gesehen. Wer sich fotografieren ließ, konnte dort seinen Kopf einspannen lassen, um ihn ruhig zu halten.
Aus einem Nebenraum brachte der Bursche die hölzerne Kamera auf einem Stativ. Schwarzer Stoff hing von ihr herab. »Ich hab’s eilig«, sagte er. Nachdem er abgesperrt hatte, lief er die Straße hinauf.
Ida konnte kaum mit ihm Schritt halten. Das lange Kleid war eindeutig ungeeignet für diesen Ausflug.
Elisabeth hatte nicht vor, ziellos im Schlosspark herumzuwandern. Mit schnellen Schritten ging sie hinter dem Schloss Richtung Obeliskenallee. Als sie und ihr Hund die ersten Bäume der Allee erreichten, schnupperte Houseguard an den Stämmen und hob bei jedem das Bein.
Von der Seite des Schlosses, an der ihr Gartenappartement lag, kam ein Mann in einem unauffälligen grauen Anzug. Er trug einen Hut und hielt den Kopf gesenkt.
»Flott«, trieb sie den Wolfshund an. »Es gibt auch oben Bäume.«
Houseguard löste sich ungern von der interessanten Duftmarke und kam ihr nach. Elisabeths Vorsprung wuchs, weil sie mehr lief als ging.
Die Kaiserin war auf Latours Bericht gespannt. Sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, was genau geschehen war. Allerdings zweifelte sie nicht daran, in Latour einen verlässlichen Erzieher gefunden zu haben.
Elisabeth hatte Josef Latour während ihres zweijährigen Aufenthalts auf Madeira kennen und schätzen gelernt. Er war mehrmals als Gesandter des Kaisers zu ihr gekommen. Seine Aufgabe war es, die Briefe des Kaisers zu überbringen und die Rechnungen einzusammeln, die während des Aufenthalts von Elisabeth und ihrem fast hundertköpfigen Hofstaat angefallen waren.
Der Landsitz Quinta Vigia war von ihr gemietet