Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Lier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670476
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die Küchentür fest im Blick, es schien, als deutete sie in leichter Schräglage einen unbeholfenen Tanz an – und brüllte plötzlich los: «Dass du so undiszipliniert bist! Verwöhnt und undankbar! Ja illoyal! Illoyal! Du weisst nicht, wer wir sind.» Doch so schnell, wie sie in Wut geraten war, so schnell beruhigte sie sich, ihre Mundwinkel schnellten hoch, sie verschwand in die Küche und rief: «Siehst du die Bäume? Riechst du die Blüten? Hörst du die Kuhglocken? Und weisst du, mein Mädchen, um deine schönen Beine?»

      An einem blauen Abend mitten im Winter in einer dicht befahrenen Stadt.

      Und doch fiel hin und wieder, wie unbeabsichtigt, das Wort Valparaiso. Es wurde Selma zum Fluchtort, zum Stern am Himmel. Ein pochendes Geheimnis, das allein ihr gehörte und ein magisches Gefühl der Unverwundbarkeit hinterliess. Und sie dachte sich in allen Variationen aus, wie sie eines Tages mit entschiedenen Schritten die Bühne ihrer Mutter betreten würde, in der Hand ein aufgeregtes, verzeihendes Herz.

      Die Tatsache, dass die Stadt Valparaiso weit entfernt von der Wüste Atacama liegt, hatte für Selma keine Bedeutung. Sie erklärte sich die geografische Ungenauigkeit mit Paulines Wunsch, Marielouise, ihre missratene Tochter, in die Wüste, wo die Hippies, die Kiffer und die Mystiker lebten, zu verbannen – verlorene Glückssucher. In diesem Bild fand sich Pauline wieder. Ja sie liebte es in ihrer selbstgerechten Art.

      Atacama, was «ans Bett gefesselt» heissen könnte, so jedenfalls stand es im Wörterbuch geschrieben, Atacama, Name für eine langgezogene Wüste, die auf der Landkarte schmal erschien, und Selma fürchtete, Marielouise müsste über den Rand stürzen, in die kalten Fluten des Pazifik oder über die unwirtlichen Klippen der Anden, deren Pfade ins benachbarte Bolivien führen.

      Selma streckt sich auf dem Sofa aus und zieht die Wolldecke hoch, sie streicht mit der Fingerspitze über die Fotografie und versenkt sich in den Anblick ihrer Mutter: das glatte dunkle Haar über dem Kopf hochtoupiert, am Hinterkopf kunstvoll zu einem Knoten geschlungen, künstliche Locken fallen über die schmalen Schultern. Die dünnen Arme um die Brust geklammert und den Kopf nach vorne geneigt sucht sie Schutz vor den Wüstenwinden, die erbarmungslos die farbigen Stoffe ihrer luftigen Kleider, die präzis gesteckte Frisur wie auch die helle Haut zerstören. Die trockene Haut, das trockene Haar, ja das ganze trockene Wesen ihrer Mutter muss in diesen rauen Gegenden vollständig papieren und brüchig, schlussendlich zerrissen und in alle Himmelsrichtungen zerstreut worden sein.

      Obwohl sie das schmale Gesicht ihrer Mutter seit frühester Kindheit nie wieder angefasst, nie die Hand auf die hohe Stirn gelegt hat, erkennt sie auf diesem Bild in traumhafter Sicherheit Marielouises Trockenheit, auch weil sie selber genauso spröde ist, hat sie doch die Herbe ihrer stolzen Grossmutter und die Trockenheit ihrer unerreichbaren Mutter geerbt.

      Und so verteilt sie seit ihren frühen Kindertagen täglich Unmengen von Öl und Fett auf Haut und Haaren. Und denkt darüber nach, warum sie ohne Vater, ohne Mutter, allein mit ihrer exzentrischen Grossmutter aufwachsen musste, und fragt sich, ob dieses Alleinsein ein allgemein menschliches Schicksal ist, was aber sofort die nächste Frage aufwirft, warum denn andere Kinder in Familien lebten, und ob sie, aus ihr unerklärlichen Gründen, auserwählt sei, die Wahrheit über das menschliche Dasein früher als andere zu erkennen.

      Heute jedoch, als erwachsene Frau und neuerdings als Erbin der verstorbenen Pauline Einzig, stösst sie angesichts der stillen Wohnung nur ein lapidares «Scheisse» aus und fühlt sich verärgert, weil dieses Alleinsein keine Frühreife, sondern lediglich ein Mangel und nichts als zusätzliche Arbeit ist.

      Schränke öffnen? Schubladen herausziehen? Sachen in die Hand nehmen? Behalten? Weitergeben? Wegwerfen? Immerhin handelt es sich um ein vollständig gelebtes Leben. Selma sieht sich im Spiegel, der aus dem dunklen Korridor hervorblitzt, kleingewachsen, aufrecht, Kopf etwas nach vorne gereckt, leicht ausgedrehte Füsse, grosse Brust, den Bauch, der sich seit Joels Geburt aus ihr herauswölbt. Ich sehe aus wie ein ratloses Schaf. Nein, ich sehe nicht aus wie ein ratloses Schaf, ich bin ein ratloses Schaf, und es ist nicht gut, wenn ich jetzt auf dem Absatz kehrtmache, das Notwendigste in einen Koffer packe, die Wohnung abschliesse, den Schlüssel in den nächsten Gully werfe und so tue, als habe es dies alles nie gegeben …

      Schön gearbeitetes, rötliches Holz, Blumenranken und mittendrin drei goldene Elefanten. Der Deckel der Kiste, die Selma unter dem Bett ihrer Grossmutter findet, lässt sich ohne Mühe aufklappen.

      In einer Sommernacht studiert sie die Dokumente, Papiere und handgeschriebenen Aufzeichnungen. Manchmal dringen Musik, Gelächter, Stimmen und aufheulende Automotoren durch die offene Balkontür zu ihr hoch.

      Pauline hatte zeitlebens ein Geheimnis um ihre Vergangenheit gemacht. Vernichtete in regelmässigen Abständen Fotos und Dokumente. War im Erfinden und Etablieren von Legenden und Mythen eine Meisterin und zwang der Welt stets ihre eigene Version der Ereignisse auf. Doch hatte sie, wie nun Selma zu entdecken meint, die letzten Jahre ihres Lebens genutzt, um das Durcheinander, das sie in ihrer Geschichte angerichtet hatte, zu entwirren. Tohuwabohu nannte sie es. Tohuwabohu! Was für ein wunderbares Wort für den Lärm in der Wüste, den niemand je gehört hat, der jedoch die Menschen verstört und das Bewusstsein und die Geisteskräfte vernichtet, wie die Engel es tun, wenn man sie aufsucht, bevor die Zeit reif ist …

      Neben Schriften über die Kabbala in hebräischer Sprache findet Selma in der hölzernen Kiste Festschriften der historischen Gesellschaft der Ostschweiz über das hundertjährige Jubiläum der Schweizer Nudelindustrie wie auch Auszüge aus den kantonalen, polizeilichen Archiven des Kantons Thurgau über den Aufenthalt von jüdischen Reisenden aus Osteuropa in den Gemeinden Sulgen, Kradolf und Schönenberg. Sie entziffert Paulines schöne Handschrift: Notizen über Geschichten, die von galizischen Nudelbäckern handeln, von papier- und mittellosen Vagabunden, die im schweizerischen Thurgau herumzogen, im Weiler Donzhausen schliesslich damit begannen, Nudeln zu machen, und dafür im deutschen Ravensburg erste Maschinen kauften, auf den Bauernhöfen Trockentürme hochzogen und Tag und Nacht schufteten. Die Kunde über das moderne Handwerk und das neue Produkt verbreitete sich. Georg Kuhn, der Sohn des Müllers Kuhn aus der Gemeinde Kradolf, liess sich im Weiler Donzhausen bei den Vagabunden als Nudelmacher ausbilden und gründete in der Folge in ebendiesem thurgauischen Kradolf eine Nudelfabrik.

      Es kam zu einem Krieg zwischen den aufstrebenden Fabriken des rotgesichtigen, schwitzenden Georg Kuhn und den kleinen Faktoreien der galizischen Nudelbäcker, sie stritten wegen Kleinigkeiten, kämpften um das Vorrecht, das Logo mit den goldenen Ähren auf den Verpackungen abzudrucken, oder um das Besitzrecht der Namen für die Formen der getrockneten Nudelspezialitäten. Nach Jahren verbissener Kämpfe kaufte Paulines Onkel Otto, Sohn des galizischen Vagabunden und Nudelbäckers Jankel Yuter und Enkel der tüchtigen schwarzen Hannah, für wenig Geld die in die Krise geratene Kuhn Teigwaren-Fabrik und veräusserte sie gewinnbringend an die mächtigste Konservenfabrik des Landes.

      Und Selma findet in der Festschrift zur Begründung der Thurgauer Teigwarenindustrie einen Satz, den Pauline mehrmals unterstrichen und mit mehreren Frage- und Ausrufezeichen versehen hat: «Wo aus uralter Bauernschlauheit kaufmännischer Geschäftssinn entstanden war, wurden anscheinend mit Absicht Unklarheiten und Lücken belassen.» Und Pauline setzte mit der Spitze ihres roten Stifts ein fettes Kreuz auf diese Lücke und schrieb an den Rand des Papiers: «Da kommen wir her. Das sind wir.»

      In ihren Notaten berichtet Pauline von Flüssen und Hochwassern, beschreibt den Dnjestr, der in der Nähe des galizischen Sambir aus der Quelle gesprungen ist, und die Thur, die in der Ostschweiz jährlich Menschen, Tiere und kostbaren Hafer verschlungen hat. Und sie erwähnt den wilden Fluss Sambatjon, den bisher noch keiner zu überqueren gewagt hat.

      Selma faltet eine brüchige Landkarte auf und findet rote Kreise um den litauischen Ort Marjiampolé, das polnische Städtchen Zamość und das ukrainische Sambir, und eine gestrichelte Linie führt von Sambir über Oswjecim, Wien, Salzburg, Innsbruck bis ins thurgauische Donzhausen. Doch das Ausmass des Erbes, das ihr die Grossmutter in dieser Kiste hinterlassen hat, zeigt sich Selma erst, als sie unter all den Papieren auf einen Plastikbehälter stösst, eine hübsche rosafarbene Tupperwaredose. Sie wiegt den überraschend schweren Behälter in der Hand, mindestens zwei Kilo, und entziffert das Etikett: einen Namen, ein Datum und einen Ort. Sie hebt sorgfältig den