«So! Das hat gedauert, ein Chasside halt!» Schneewittchen springt auf und sucht Messer und Gabel, ich helfe ihm, Hühnerkeule, Kartoffeln und Gemüse, der Mann, der mir gegenübersitzt, will wissen, warum ich hier bin. Ich stelle die Gegenfrage. Er wohne in der Westbank und arbeite als Tourist Guide, Polen, Ukraine, Russland, Konzentrationslager und Erschiessungsstätten. Er berichtet von Auschwitz, das erst spät für ganz Europa errichtet worden ist, von Belcec, wohin die meisten Polen und Westukrainer verschleppt worden sind, und von Sobibor im Süden, wo es einen Aufstand gegeben hat. Er zählt Dörfer und die Anzahl der Erschossenen und im Wald Verscharrten auf, kann nicht aufhören, eine Litanei, eine Liturgie. Der Mann, rothaarig und voller Sommersprossen, kneift schliesslich die Augen zusammen und fixiert mich. Er lebe in Samaria, im heiligen Zentrum von Israel, sagt er, die internationale Gemeinschaft bezeichne das Gebiet aber als Westbank oder gar als besetztes Gebiet. Er wiederholt angewidert das Wort: WESTBANK! Nun ja, entgegne ich, auf die Perspektive, aus der man die Sache betrachte, komme es an.
Er ist gekränkt und verstummt.
Wodka wird ausgeschenkt. Lea verteilt Fruchtrouladen, ihre Töchter laufen hin und her, tragen auf und ab, in der Küche an der dröhnenden Abwaschmaschine zwei lachende, verschwitzte Frauen: Schabbes Gojim.
Lea umarmt mich: Schabbat Schalom. Und der Rabbi wirft sich auf einen Stuhl, wischt sich mit einem Tuch den Schweiss von der Stirn und entschuldigt sich, weil er seine Geschichten in Ivrit erzählt.
«Never mind», sage ich, und er wendet sich ächzend ab: «All the best.»
lea kaplan, frau des oberrabbiners, 32 jahre, lebt in lemberg: «Dieses gute Gefühl, ja, wir sind jüdisch, wir sind glücklich, jüdisch zu sein, wir sind stolz, jüdisch zu sein, ein sinnvolles, glückliches Leben zu haben, dieses Gefühl, mir und anderen etwas geben zu können, diese Ideale will ich weitergeben, ja, als Jüdin muss ich ein gutes Beispiel sein, mein Leben in dieser Welt ist Ausdruck eines göttlichen Willens, und wenn jemand meine Handlungen sieht, soll er sagen: Wow! Das muss ein wundervoller Gott sein! Und so kann ich andere dazu ermuntern, Unterstützung zu geben, zu teilen, aufrichtig und freundlich zu sein: uralte jüdische Ideale. Wer aber mag es jedoch, wenn man ihm dauernd unter die Nase reibt: Hey! Sei aufrichtig, sei freundlich, sei integer! Menschen sind unvollkommen und machen Fehler. Ein Jude ist aber aufgefordert, diese Ideale zu verkörpern.»
Wolltest du das, liebe Pauline? Immerhin weisst du nun, wie das geht. Eigentlich hast du es immer gewusst. Dieses Schabbat-Essen erinnert mich an die wöchentlichen Einladungen, die du gegeben hast. Den langen Tisch. Die ausgewählten Gerichte. Die Helferinnen. Die hitzigen Diskussionen. Das Geschrei. Lachen. Die Musik vom Plattenteller. Und du! Die Königin. Mit deiner schwarzen, krausen Haarkrone. Deinen strahlend grünen Blicken. Deinen Geschichten. Deinem Witz. Du hieltest sie alle in der Hand – wie der runde Rabbi Mordechai und seine Frau Lea ihre Gäste.
Und ich las in deinen Notizen, liebe Pauline, von deinem grossen Wunsch, in die Synagoge zu gehen. Aber du trautest dich nicht: «Wir beugten unsere Köpfe und unterwarfen uns der fremden Macht. Es stellte sich jedoch als fataler Irrtum heraus, die eigene Herkunft aus dem galizischen Judentum verdrängen zu wollen. Denn ich wurde zu einer Mischung all jener Mächte, denen wir uns unterwarfen. Bei Hendrik ging es so weit, dass er für kurze Zeit Mitglied der NSDAP wurde. Wie ich es verabscheute. Wie ich ihn und mich verachtete. Doch klopften zeitlebens beunruhigende Träume an meine Tür. Und dahinter lauerte die Masse der galizischen Juden, die ihr Dorf verlassen hatten, um in christlichen Gemeinden sich zu assimilieren. Bereit, von beiden Seiten attackiert zu werden!»
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