Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Lier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670476
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an die Not, an den Schmerz, an die Kälte, den Hunger, Blanka, Schritt für Schritt, den Blick gerade auf den Moment gerichtet, das Notwendige.

      Blanka, jeder Atemzug ein Faustschlag in Gottes bösartiges Gesicht.

      Und sie weinte, wenn sie an die arme Charna dachte, die niemals ihrem Kind das Spiel des Sonnenlichts im Staub, den Duft der Milchsuppe an Festtagen, das Gegacker der Hühner zeigen, die nie sein lachendes Gesicht sehen, wenn sie versuchte, einen der Vögel einzufangen, und die nie davon erfahren würde: Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, das Kind, in dessen verkackter Windel sie die Nachricht des chilenischen Fishel Kaplan gefunden hatte, zu töten.

       2010. Zürich. Schweiz

      Kurze Zeit nachdem Pauline Einzig beerdigt worden war, erhält Selma Einzig, die Enkelin von Pauline, einen Brief, in dem ihr angekündigt wird, sie habe innerhalb der nächsten vier Wochen die Wohnung zu verlassen.

      Selma bekommt den Schluckauf. Sie geht mit kleinen, tapsigen Schritten durch die stillen Räume, bemüht, in jeder Bewegung ein Gefühl oder einen Gedanken zu finden, bleibt stehen und schaut über die Dinge, die sich während der letzten Jahrzehnte ihres gemeinsamen Lebens in der weitläufigen Wohnung eingefunden haben: Joels Klavier, das er nie benutzte. Nachdem er es tagelang misstrauisch gemustert hatte, tauchte er seine Finger in die Tasten, erzeugte einen fürchterlichen Missklang, worauf er den Deckel zuklappte und das Instrument nie wieder anrührte. Sie lässt ihre Blicke über die in der Wohnung verteilten Bücher schweifen, die Pauline in die Regale zurückgestellt hatte, und Selma, die sich im Chaos, aber nicht in der Ordnung zurechtfand, musste sich auf die Suche machen. Sie starrt die farbigen Teppiche an. Jagdbeute von Paulines und Selmas Reisen.

      Auf dem runden Esstisch stapeln sich frisch gewaschene, akkurat zusammengelegte Kleidungsstücke, Stoffe von hervorragender Qualität und Farben von einer dämmerungsgleichen Diskretion – Selma berührt die Stücke und presst ihre Nase hinein –, Pauline hat, so lange Selmas Erinnerungen zurückreichen, nur diese braunen, beigen und eierschalenweissen Woll-, Baumwoll- oder Seidenstoffe getragen, Kleider, die geschützt, geschmeichelt und gewärmt und dennoch der Trägerin eine kühle und abweisende Eleganz verliehen haben. Streicheln, ich hätte sie streicheln wollen, und doch, es war schwer, Pauline hat eine verhornte Haut, eine schuppige Seele gehabt, ein Herz wie eine Peitsche … Selma öffnet Schränke und Schubladen, wühlt unentschlossen zwischen den Dingen, und die Aufregung weicht dem Gefühl der Überforderung, sie setzt sich auf den kalten Küchenfussboden. Was soll ich machen? Wer will denn alle diese Sachen behalten? Wo soll ich sie unterbringen? Wohin soll ich gehen … Und von Selbstmitleid gelähmt verkriecht sie sich im Sofa, wickelt sich in die weiche Wolldecke und flüchtet sich in Tagträumen dorthin, wo ihre Mutter lebt: Valparaiso, die Hafenstadt an der chilenischen Küste.

      Und wenn alles erledigt ist, wird sie über den Atlantik fliegen und das tun, was zu Paulines Lebzeiten ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ist. Es hätte sie zu sehr gekränkt.

      Als gäbe es nicht schon genug Schwierigkeiten zu bewältigen, hat Joel, einen Tag nach Paulines Beerdigung, den Entschluss gefasst, nach sechzehn Jahren Zusammenleben mit Urgrossmutter Pauline und Mutter Selma zu seinem Vater zu ziehen: Diogo Pintor Eloy. Selmas Freund aus Kindertagen und Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung, in der Selma seit Jahren als Reporterin für Alltagsgeschichten und Lebenshilfe angestellt ist. Joels Flucht erstaunt und kränkt sie gleichermassen, obwohl sie seine Angst angesichts des Kummers und der drohenden Einsamkeit wie auch der Veränderungen, die Paulines Tod unweigerlich mit sich bringen, verstehen kann. Es ist seine Art, zu trauern … Er sucht beim Vater Sicherheit und Schutz …

      Selma spürt Neid. Neid auf ihr eigenes Kind. Das einen Vater hat. Einen Vaterort. Einen Ausweichort. Und sie macht sich Vorwürfe wegen ihrer Unzulänglichkeit. Weil sie nicht in der Lage ist, ihr Kind zu halten. Und zu trösten. Doch niemals würde sie ihm den Weg versperren, da sie die Liebe zu Joel der Liebe zu sich selbst gleichstellt und eine Verletzung seiner Gefühle sich anfühlte, als würde sie sich selbst etwas antun. Sie lässt ihn also gehen, ohne darüber zu sprechen, und er gibt mit feindseliger Miene zu verstehen, dass ihm jegliche Diskussion, dieses Ihn-Miteinbeziehen und Sich-Sorgen-Machen, dieses unnötige Wir-sind-ja-so-interessiert-an-deiner-Meinung schrecklich auf die Nerven geht. Und so wagt sie auch nicht, Joel von ihrem Vorhaben, bei Diogo sich zu entschuldigen und ihm vorzuschlagen, es nochmals mit der Familie zu versuchen, in Kenntnis zu setzen: Sie würde nach Paulines Tod bei Diogo einziehen. Endlich hätten sie es geschafft, eine Familie zu sein.

      Sie packt mit dem Jungen seine Sachen zusammen. Richtet mit leichten Pfoten und melancholischer Zerstreutheit ein Durcheinander an, verliert und vergisst, und er läuft unwillig hinter ihr her, sammelt bedächtig auf und sorgt für Ordnung, schimpft lethargisch vor sich hin. Sie graben Erinnerungen aus und erzählen einander Anekdoten, Joel spielt mit, er, der immer wieder betont, er könne seiner Mutter niemals verzeihen, dass sie ihn durch ihren Lebenswandel dazu zwinge, ihren Namen zu tragen: «Joel Einzig, what the fuck, wie viel cooler ist doch Joel Pintor Eloy.» Was wiederum Diogo scherzhaft zu korrigieren pflegt: «Joel Pintor Einzig – Vater zuerst und dann die Mutter.» Worauf Selma nörgelt: «Joel Einzig Pintor.» Und Joel mault: «Wer fragt eigentlich mich?» Diogo boxt ihn in die Seite, fährt ihm durchs blonde Haar und pustet in seine blauen Augen: «Deine Mutter. Alles die Schuld deiner Mutter!»

      Und so witzeln sie und lachen, bis Joel die Nerven verliert, seine Kleider aus dem Schrank zerrt und zornig in die Taschen stopft, was für eine Zeitverschwendung, was für eine Zeitverschwendung!

      Nur fertig werden und endlich raus hier!

      Nachdem Joel aus der ehemals gemeinsamen Wohnung ausgezogen und bei seinem Vater angekommen ist, arbeitet Selma sich hektisch von vorne nach hinten und von rechts nach links durch alle Zimmer, verstaut Stück für Stück Paulines Habseligkeiten in hellblau gemusterten Abfallsäcken, um auf die Strasse zu stürzen, die Säcke aufzureissen und das eine oder andere Ding zu retten. Joel! Er wird später den Wunsch verspüren, sich an seine Urgrossmutter Pauline, Gefährtin und Hüterin seiner Jugend, und an seine Grossmutter Marielouise, die in Chile lebt, zu erinnern.

      Joel und seine Rechte gehen vor.

      Marielouise Einzig hatte, den bruchstückhaften Erzählungen Paulines zufolge, den Kontakt zu Mutter und Tochter vollständig abgebrochen und beschlossen, ihr zweites und besseres Leben in der mythenumwobenen Wüste Atacama und der sagenhaften Stadt Valparaiso zu verbringen.

      Mit fünfzehn Jahren wollte Selma das Schweigen um das Verschwinden ihrer Mutter nicht weiter hinnehmen und hat lauthals Pauline ihren Hang zum Rätselhaften, zum Drama und dieses unerträgliche Pathos vorgeworfen. Pauline setzte geräuschlos die Teetasse ab, nahm einen Zug von der Zigarette und blies den Rauch entschieden wieder aus: «Ich hab deine Mutter vergessen, in meinem Kopf existieren keine Erinnerungen, in meinem Herzen sind keine Gefühle, es ist, wie wenn es meine Tochter nie gegeben hätte.» Was in ihrer Sprache jedoch bedeutete: «Ich vermisse mein Mädchen, ich muss immerzu an es denken, vom Augenblick des Aufstehens bis zum Moment des Einschlafens, und ich bete um ein Zeichen des Verzeihens – was auch immer ich ihm angetan hab.»

      Selma starrte ihre Grossmutter an und versuchte, das Gesagte zu ergründen, Pauline sprach in der Regel nur, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Vermutlich ist sie traurig … Sie will getröstet werden, ohne darum bitten zu müssen … Sie strich der alten Frau eine Haarsträhne aus dem Gesicht, liebkoste ihre Hand und stiess kampflustig aus: «Du hast sie tatsächlich vergessen? Und ich? Bin ich etwa vom Himmel gefallen?»

      Pauline schwieg. Schaute ihre Enkelin prüfend an.

      Und zerlegt vermutlich mein Inneres in seine Einzelteile, um zu verstehen, warum ich sage, was ich gerade nicht hätte sagen sollen … Selma runzelte die Stirn und fügte an: «Ich bin ihr Kind gewesen. Und ich bin es immer noch.»

      «Geschichten gehen allein diejenigen etwas an, die sie erlebt haben. Sind sie tot, haben sie nicht mehr die Möglichkeit, sich dazu zu äussern», erwiderte Pauline barsch. «Wer tot ist, nimmt seine Geschichte mit. Weg ist sie. Und das ist gut so.»

      Selma schluckte leer: «Tot?