Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Lier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670476
Скачать книгу
der Unterlage, die Anstrengung deiner Haut, die sich abrackerte, um die Wärme zu halten, damit die Kälte dir nicht das Leben aus deinem Leib fressen konnte, wie im Stall am Koben die Schafe das Heu. Und dein Herz klopfte empört.

      So lagst du da, auf die Geräusche lauernd, deine Aufmerksamkeit auf das mächtige Wesen gerichtet, das sich in regelmässigen Abständen näherte und entfernte.

      Doch so wie das Meer ohne Wind keine Wellen kennt – ohne Zurückweisung hättest du nie deine Arme verlangend ausgestreckt.

      Und obwohl du den drängenden Wunsch verspürtest zu verschwinden. Ich will weg, ich bin verhasst, ich bin verdreckt, ich bin geschwärzt wie die russigen Töpfe in Blankas sauber gescheuerten Händen … Blanka, die mich liebt, Blanka, in deren Augen ich überlebe und bei der ich trotz der Schläge und Tritte von Petrik und der grabschenden Finger des blöden Knechts jeden Morgen erwache … Und obwohl Hannah den drängenden Wunsch verspürte zu flüchten, fürchtete sie, Blanka zu verlieren, und so lag sie im Schnee, still, und schlief ein.

      Wortlos stiess Blanka das halbwüchsige Mädchen ins Haus, starrte einen Moment auf den schmutzigen Fussboden, hob die langen Arme und verprügelte Hannah, liess ihre Fäuste auf Kopf, Rücken und Po des Mädchens fallen, gezielte Schläge, und Blanka, gewohnt, das Notwendige zu tun, ohne dabei etwas zu fühlen, wunderte sich über die Heftigkeit ihrer Wut.

      Sie liess von Hannah ab und verzog sich in den Stall, um das Pferd zu striegeln, die Kühe zu melken und ihre verhängnisvolle Entscheidung zu verfluchen. Warum hatte sie das Kind am Leben gelassen und zwölf Jahre bei sich behalten? Auch war sie angesichts ihres gewalttätigen Ausbruchs verwirrt, da sie die Erinnerung an ihre Eltern, die sanft und bescheiden gewesen und nie die Hand gegen sie erhoben hatten, über den gebotenen Respekt hinaus hochhielt. Und, was die kleine Hannah betraf, sie sich bemühte, das Mädchen vor der Gewalt der Männer, dem eigenen Sohn Petrik und dem blöden Knecht, in Sicherheit zu bringen.

      Es waren aber die Dämonen der Geschichte, die ihr das Kind verdarben. Dieses Kind, das die Frau, die den Namen Charna trug, aus dem litauischen Kupiškis mitgebracht und bei ihr im russisch-polnischen Zamość abgeladen hatte.

      Das Haar schimmerte und die Augen leuchteten. Schwarz. Charna, was die Schwarze bedeutete, so viel wusste sogar sie, die ungebildete Bäuerin mit dem Namen Blanka, die Helle, die nicht viel in der Welt herumgekommen war, sich aber sehr wohl zu helfen wusste, und der beigebracht worden war, die Gesetze, wenn das Überleben es forderte, zu übertreten. Und diese Charna, die in eleganten Stiefeln durch die Pfützen gestapft war, leichtfüssig mit hoch erhobenem Kopf, als würde sie unberührt durch den Schmutz hindurchgehen, und die mit zartgliedrigen Händen das Bündel umklammert und an ihre Brust gedrückt hatte, wirkte stark und eigenwillig. Ein Eindruck, der durch ihre Verstörung und Verzweiflung sich verstärkte. Es handelte sich um eine dieser Gebildeten, wie man sie unter denen, die Jiddendeutsch sprachen manchmal zu finden pflegte, ja es musste eine dieser Gebildeten sein. Sichtlich in grosser Not war sie den weiten Weg von Kupiškis nach Zamość gekommen, um sich von ihr, einer einfachen polnischen Bäuerin, das vermutlich geliebte Kind töten zu lassen. Eine litauische Engelmacherin hätte es auch getan, das Kind getötet. Warum war die Frau bis ins südöstliche Polen gefahren?

      Irgendein Verwandter – Vater, Bruder, Onkel – oder ein zufällig vorbeiziehender Bauerntölpel hatte das Jiddenmädchen schwanger gemacht. Blanka kannte sich aus, das hatte sie das Leben ihrer Kundinnen, aber auch das eigene gelehrt, war doch auch eines ihrer Kinder, der Petrik, in ihrem Bauch gewachsen, nachdem die französischen Soldaten ihr den Mann erschlagen und das Vieh aus den Ställen gezerrt hatten.

      Aber schön war sie, diese Charna. Und hochmütig. Denn noch nie hatte Blanka gesehen, dass eine Mutter ihr das Kind eigenhändig übergab. Sie hätte es nicht annehmen sollen, das Kind, es hatte den Tod und die Mutter den Schmerz nicht verdient. Doch da dachte sie an ihren Petrik und seine verbotene Schnapsbrennerei, sie dachte an seine Pferdediebstähle und die Beamten des russischen Zaren, die ihr den Jungen bald holen würden, um einen Soldaten aus ihm zu machen, und was wurde dann aus ihr?

      Blanka nahm das Geld und versprach den Tod des Kindes innerhalb von sechs Tagen. Sie würde es töten wie alle anderen zuvor, in die Hütte bringen und vergessen, einfach vergessen, den Stall putzen, das Pferd striegeln und den Weizen schneiden, einfahren und dreschen, schöne Tage, keiner ist betrunken und keiner schlüge und alle – auch die Tiere und die Pflanzen – wären gesund, das Wetter trocken, genügend Nahrung und das wimmernde Kind weit weg.

      Der Mann auf dem Bock, der die schwarze Charna gebracht hatte, schrie in einer unverständlichen Sprache. Die Frau musterte Blanka und den Hof mit flüchtigen Blicken, hellwach – sie war eine, der nichts entging. Der Mann liess die Peitsche knallen, das Pferd zuckte zusammen. Die Frau drückte das Bündel noch fester gegen ihre Brust und bohrte sich in Blankas Augen. Und da geschah, wovor Blanka sich am meisten gefürchtet hatte: In ihr erwachte ein Gefühl.

      Erleichterung zeigte sich auf Charnas Gesicht, eine ungezügelte Hoffnung.

      Blanka leckte sich eine Träne von den Lippen und nahm mit entschiedenem Griff, wie er Menschen eigen ist, die, einmal in Bewegung geraten, nicht mehr aufzuhalten sind, das Kind an sich. Charna zog das schwarze Tuch über der Schulter zusammen, wandte sich ab und lief zum Wagen, wieder mit hoch erhobenem Kopf, als trüge sie eine Pflicht und eine Sünde zugleich.

      Doch da verlor sie die Fassung, blieb abrupt stehen, wütete mit den teuren Stiefeln im Schlamm, zerriss sich die Bluse über der Brust und ein Gebrüll, das dem eines durstigen Ochsen ähnelte, suchte sich den Weg aus ihrem Mund. Blanka erstarrte und es schien ihr, als suchte die Fremde nicht nur ihren unerträglichen Schmerz aus sich herauszuschaffen, sondern als wütete sie mit aller Kraft gegen die unsichtbaren Mauern eines für immer geschlossenen Kerkers.

      Blanka legte die Hand auf ihre Brust und spürte diese Sehnsucht, die beim ersten Blick in die grasgrünen Augen des Säuglings aus Kupiškis in ihr erwacht war: Dieses Mal würde sie es nicht übers Herz bringen, das Kind zu töten.

      Nach Hannahs Besäufnis und nachdem sie das Mädchen so unerwartet heftig verprügelt hatte, fasste Blanka Pawelka einen Entschluss. Sie wartete den Frühling ab und ergriff in Richtung des galizischen Sambir die Flucht. Was vermochte sie, die Bäuerin aus dem russisch-polnischen Zamość, gegen die Dämonen des einstmals todgeweihten Kindes, das so schwarz wie seine Mutter geworden war, auszurichten? Und so erinnerte sie sich ihrer Nichte Karolina Lukaszka, die in Sambir, in der Nähe des galizischen Lemberg, auf dem Gut des polnischen Grafen Tomasz Szujski den Haushalt führte und ihr anlässlich eines Besuches erzählt hatte, dass der Pächter, Menachem Yuter, ein Jude war, ein grossherziger Mann. Bei ihm wollte sie das Kind abladen, hatte sie doch keinen Zweifel an der Herkunft der armen Charna.

      Am ersten Abend, als der Säugling bei ihr geblieben war, hatte Blanka in den nassen, stinkenden Windeln einen Fetzen aus dickem Papier mit fremdartiger Schrift gefunden. Ihre Neugier war geweckt und sie zog den erstbesten Hausierer, von denen zahlreiche im Frühjahr und Herbst ihren Hof besuchten, ins Haus und bat ihn, das Geschriebene zu entziffern. Der Händler, ein freundlicher, bärtiger Mann, nahm das Schriftstück, da er selbst nicht lesen konnte, an sich mit dem Versprechen zurückzukehren, was er auch tat, und legte wenige Tage später den Papierfetzen mit bedeutungsvoller Miene auf Blankas Tisch, trank aus dem Wasserkrug und berichtete, es handle sich um die Anschrift eines ehrenhaften Fishel Kaplan, der im fernen südamerikanischen Chile in einer Stadt namens Valparaiso ein Haus besitze und Handel mit Weizen betreibe. Der Mann wischte sich das Wasser vom Mund und schaute Blanka misstrauisch an, er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine einfache polnische Bäuerin zu dieser Nachricht gekommen war. Doch dann fuhr er fort, dieser Fishel Kaplan hätte geschrieben, dass dieses Chile ein gutes Land wäre, das sich nach dem Unabhängigkeitskrieg für die Juden geöffnet hätte, und wenn Charna gezwungen würde, in Kupiškis Chalitza zu machen, wäre das für ihn Grund genug, sie und ihr Kind im chilenischen Valparaiso zu erwarten, er wäre stolz und hocherfreut, sie bei sich aufnehmen zu dürfen. Blanka schwieg. Und versuchte zu verstehen, wie dieses ferne Chile und Valparaiso in ihre enge polnische Stube hatte einbrechen können. Der schwarzen Charna wäre es offensichtlich möglich gewesen, sich und ihr Kind in diesem chilenischen Valparaiso in Sicherheit zu bringen, das verstand Blanka, wenn