verlag die brotsuppe
Johanna Lier
Wie die Milch aus
dem Schaf kommt
Roman
verlag die brotsuppe
Für Lenny, Brigit und Clara.
Obwohl die Geschichte sich der Besonderheiten und Örtlichkeiten von Erinnerungen und Biografien der beteiligten Personen bedient, ist «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» eine Erfindung. Und obwohl es tatsächlich Vagabunden gab – insbesondere einen Yuter aus Kupiškis –, die in Donzhausen eine Nudelmanufaktur gegründet haben, und obwohl die Erzählerin sich tatsächlich in der Ukraine und in Israel aufgehalten hat, sind die Abenteuer der Selma Einzig ein Fantasieprodukt.
Selma. Kind der Marielouise, Kind der Pauline, Kind der Berta, Kind der Nelly, Kind der Bithia, Kind der Hannah, Kind der Charna, Selma, Glied einer langen, unzerreissbaren Kette, die sich dem Planeten um den Hals legt, auf die weiten Landstriche, in die tiefen Täler und Sümpfe, die Seen und ruhig dahinfliessenden Flüsse, auf das weich gewellte Hügelland, um die hohen Gebirge, in die Steppen und dunklen Wälder, Selma, Glied einer Kette, die dicht bevölkerte Städte, von Bauern bewohnte Dörfer oder auch menschenleere Gehöfte aneinanderreiht, die Tiere umschlingt, Wölfe, Bären, zeternde Gänse, Füchse, Dachse, Wiesel, Eichhörnchen und all die unzähligen Vögel, im Frühling die Amseln, im Sommer die Lerchen, im Winter die hämmernden Spechte und Häher. Selma, Glied einer langen Kette, die Landschaften und Zeiten verbindet, die durch düstere Kanäle zieht und unvermutet an der Oberfläche auftaucht.
Die Winter sind eisig, wenn das Blau des Himmels knirscht. Und der Schnee sich in den Bäuchen der Säuglinge bläht.
Inhalt
1841. Sambir. Königreich Galizien und Lodomerien (Österreich-Ungarn)
1842. Kradolf und Sulgen. Schweiz
liste der dokumente, schriften, kladden, bücher und gegenstände in paulines kiste:
1843 – 1847. Donzhausen. Kanton Thurgau. Schweiz
1854 – 1857. Donzhausen. Schweiz
1882. Donzhausen. Kanton Thurgau. Schweiz
Beschreibungen, Aussagen und Zitate:
1831. Zamość. Russland
In der Stube fand Hannah den Selbstgebrannten. Sie zögerte. Als sie aber Petriks Stimme vernahm, der im Stall fluchte, stürzte sie sich auf die Flasche, zog den Korken und soff, lief aus dem Haus, torkelte durch den Schnee, diese flockige Masse, warf sie in die Luft, liess sich fallen, und als sie die heisse Wohligkeit in der Brust fühlte, lachte sie, riss sich die Lumpen vom Leib und wühlte den mageren, erhitzten Körper ins kalte Bett.
Und über dir, liebe Hannah, strahlte, so weit das Auge reichte, der Himmel und prustete dir ins Gesicht. Und du bohrtest deine Sinne, ja die ganze Kraft deiner Gefühle in dieses tiefblaue Gewölbe, in diese Liebe, eine grosse Liebe, die du andauernd anschauen, nicht mehr aus dem Blick lassen wolltest, auffressen, verdauen, behalten und nicht mal scheissen, nur bei dir behalten, für immer behalten, so ging es dir mit diesem Himmel, der Wölkchen pustete und Vögel in alle Richtungen verschickte, allein zu deinem Vergnügen. Dein Atem stockte, nicht vor Angst, nein, vor Freude, und die kleine Brust zersprang.
Doch der trockene Schnee hielt dich gerade noch rechtzeitig zusammen. Wie damals, als der riesige Körper mit der warmen Haut über den kräftigen Knochen und der pralle Hügel mit der schrumpeligen Spitze sich deinem Mund näherten. Du wusstest von dieser Süsse, bevor du deine Lippen darum legtest. Und du schlossest die Augen, drücktest mit der Zunge die Warze an den Gaumen, bis die warme Flüssigkeit herausfloss und dein Inneres mit Ekstase füllte und die Augen langsam in die Dunkelheit kippten. Wenn du Glück hattest. Denn es konnte geschehen, dass eine Hand dir die Warze aus dem Mund zog und kratziger Stoff sich zwischen dich und die ersehnte Wärme