Einem UNICEF-Bericht aus dem Jahr 2018 zufolge werden in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen noch fast neun von zehn Babys zumindest für eine gewisse Zeit gestillt. In Ländern wie Bhutan, Nepal und Sri Lanka sind es sogar 99 Prozent. Im Gegensatz dazu wird in Ländern mit hohem Einkommen mehr als jedes fünfte Baby überhaupt nie gestillt. Und wenn, dann häufig nur für kurze Zeit. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber im Wesentlichen auf gesellschaftliche Phänomene, steigenden Wettbewerb im Arbeitsumfeld von Frauen und deren mangelnde Unterstützung und Aufklärung bezüglich Stillen zurückzuführen. Eine Fahrlässigkeit westlicher Gesellschaften mit zahlreichen negativen Gesundheitsfolgen für Mütter und Kinder, wie sich im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt hat. Auch davon wird in diesem Buch noch die Rede sein.
Dennoch ist und bleibt die mittlerweile weitgehend routinemäßige Möglichkeit eines Kaiserschnittes eine große medizinische Errungenschaft. Denn vor der Etablierung des Kaiserschnittes, also bis in die 1950er-Jahre, endete eine Geburt für bis zu sechs Prozent der Kinder und Frauen in Europa tödlich.
Die moderne Medizin versucht aus nachvollziehbaren Gründen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (inkl. Antibiotikaprophylaxe, Wehenmittel, Anästhesie und Kaiserschnitt), Geburtskomplikationen und negative Gesundheitsfolgen für Mutter und Kind zu verhindern. Das ist zwar gut so, hat aber auch zu einer gewissen Form der Absicherungsmedizin geführt, denn Patientinnen und Patienten werden immer klagefreudiger und die Regressforderungen können im Falle eines vermeintlichen Geburtsschadens astronomisch ausfallen. Auch die Haftpflichtprämien sind in der Geburtshilfe in schwindelerregende Höhen gestiegen. Laut Deutschem Ärzteblatt müssen beispielsweise niedergelassene Gynäkologinnen und Gynäkologen, die als Belegärzte an Krankenhäusern in der Geburtshilfe arbeiten, im Mittel derzeit rund 60 000 Euro Jahresprämie für ihre Haftpflichtversicherung aufbringen.8
Es ist somit nicht verwunderlich, dass bei einer Krankenhausgeburt alle Register der modernen Schulmedizin gezogen werden, um einen Geburtsschaden so gut wie möglich zu verhindern. Allerdings steht diese Praxis mit dem Credo »So wenig wie möglich und nur so viel wie unbedingt nötig« in zunehmendem Konflikt.
Nehmen wir nur das Beispiel einer vaginalen Infektion mit speziellen Streptokokken in der Spätschwangerschaft. Sie sind eine mögliche Ursache für schwere Infektionen des Neugeborenen mit der Möglichkeit von neurologischen Langzeitfolgen und einer ein- bis dreiprozentigen Sterblichkeitsrate. Während der 1990er-Jahre begann man daher in vielen Ländern mit dem Screening von Schwangeren auf diese Bakterien, um im Fall eines positiven Nachweises standardmäßig eine intravenöse Antibiotikaprophylaxe im Rahmen der Geburt zu verabreichen.
Auch Luise wäre im Zuge ihrer ambulanten Krankenhausgeburt beinahe in den Genuss dieser Antibiotikaprophylaxe gekommen, da sie das Ergebnis des beim niedergelassenen Facharzt durchgeführten Streptokokken-Abstriches nicht zur Hand hatte. Kurz bevor ihr ein Arzt die Infusion verabreichen wollte, fiel ihr das Testresultat ihres Abstriches ein: negativ!
Hätte sie also die routinemäßige Antibiotikaprophylaxe erhalten, wären den Nachteilen keinerlei Vorteile gegenübergestanden. Und noch etwas ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen: Ein wesentlicher Grund, warum sich Luise für eine »natürliche« Hausgeburt entschieden hatte, war, dass sie selbstbestimmt über ihre Geburtsmodalitäten bestimmen wollte. Viele Frauen berichten, dass ihnen gerade diese Selbstbestimmtheit im Krankenhaus mit seiner Hektik und seiner alles bestimmenden Absicherungsmedizin nicht gegönnt wurde.9
Tatsächlich existiert aktuell keine oder nur eine geringe wissenschaftliche Evidenz für die generelle Sinnhaftigkeit einer Antibiotikaprophylaxe während der Spätschwangerschaft und der Geburt, um das Risiko unerwünschter Ereignisse für Mutter und Kind zu reduzieren. Weder im Allgemeinen10 noch im Fall von grünlich-trübem (mekoniumhaltigem) Fruchtwasser11 oder im Fall eines positiven vaginalen Streptokokkennachweises.12
Zu diesem Schluss kommen immerhin die evidenzbasierten Ergebnisse von Studienauswertungen der Cochrane Collaboration, einem globalen, unabhängigen Netzwerk aus Wissenschaftlern, Ärzten und Angehörigen der Gesundheitsfachberufe.
Dafür kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass sich die weitverbreitete Praxis der standardisierten Antibiotikaprophylaxe im Rahmen der Geburt negativ auf die Entwicklung des delikaten kindlichen Darmmikrobioms auswirkt und damit möglicherweise auf den Gesundheitszustand des Kindes im Verlauf seines Lebens.13
Sämtliche medizinische Richtlinien und Empfehlungen zur Antibiotikaprophylaxe bei positivem Nachweis von Streptokokken stammen aus einer Zeit, in der man über die gesundheitliche Bedeutung des Darmmikrobioms noch nichts wusste.
Daraus lässt sich aber keinesfalls reflexartig ableiten, dass eine Antibiotikatherapie keine sinnvolle ärztliche Maßnahme darstellt. Das ist sie nämlich zweifelsohne, allerdings nur unter gewissenhafter Abwägung der Vor- und Nachteile im Rahmen der viel beschworenen, aber in letzter Zeit deutlich in den Hintergrund getretenen ärztlichen Heilkunst.
Im Falle eines positiven Nachweises von Streptokokken der Gruppe B, einhergehend mit der Gefahr einer Neugeborenen-Infektion, besteht vermutlich vor allem bei Vorhandensein von zusätzlichen Risikofaktoren wie Frühgeburt (vor der 37. Schwangerschaftswoche), niedriges Geburtsgewicht, länger dauernde Geburt, frühzeitiger Blasensprung (mehr als 12 Stunden vor der Geburt), schwere Störungen der fetalen Herzfrequenz während der ersten Phase der Wehen und Schwangerschaftsdiabetes durchaus ein präventiver Nutzen einer Antibiotikaprophylaxe.
Es ist nur die undifferenzierte wie unkritische Verabreichung »mit der Gießkanne«, die, wie viele andere »standardisierten Maßnahmen« auch, das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausschüttet und ein Vorgehen nach dem alten medizinischen Ethos »primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare« (»erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen«) erheblich erschwert.
Luise hatte Glück. Sie konnte mithilfe einer vertrauten, gut ausgebildeten und erfahrenen Hebamme und der Sicherheit eines gut ausgestatteten medizinischen Sicherheitsnetzes im Hintergrund ihre Bestrebungen nach einer »natürlichen und selbstbestimmten Geburt« mit so wenig medizinischer Intervention wie möglich verwirklichen. Diese Vorgangsweise wäre generell nicht nur wünschenswert, sondern in unserem Gesundheitssystem, im Unterschied zu zahlreichen anderen Ländern, in den meisten Fällen auch möglich. Allerdings ist nichts ohne Risiko, das betrifft in ganz besonderem Maße die Geburt, sei es nun im Krankenhaus oder zu Hause.
Sieht man von den durchaus bestehenden Risiken aber einmal ab, sind Schwangerschaft und Geburt bei genauerer Betrachtung eine unglaubliche Manifestation des unsichtbaren Netzes, das wir Leben nennen.
Ein Wunder für sich
Eine Schwangerschaft ist ein extrem komplexes und durchaus risikobehaftetes Ereignis, ohne dessen erfolgreichen Verlauf wir uns (weder Sie noch ich) innerhalb dieser Buchseiten nicht gefunden hätten. Grund genug, uns dieses Wunder kurz einmal näher anzusehen.
Die Entstehung eines neuen Menschen ist ein faszinierender Prozess, von dem wir noch lange nicht alle Details verstanden haben. Immerhin sollen sich innerhalb von neun Monaten aus einer einzigen befruchteten Eizelle später einmal die mehr als 300 verschiedenen Zelltypen eines Menschen an der anatomisch richtigen Stelle entwickeln.
Vorher muss sich der am siebten Tage bereits als kleiner Zellhaufen vorliegende Embryo aber erst einmal seine Versorgung sichern und in der Gebärmutterwand einnisten. Dabei entwickeln sich einige der Zellen zum Embryo, aus den anderen beginnt sich in den folgenden Wochen die Plazenta zu bilden. Letztere ist ein unterschätztes temporäres Organ, denn es dient dem ungeborenen Kind für die Zeit im Mutterleib gleichzeitig quasi als »Lunge«, als einzige Nahrungsquelle und als Abfallbeseitigungssystem. Das alles muss eine Plazenta leisten, während sie zusätzlich noch unerwünschte immunologische Vorgänge wie eine Abstoßungsreaktion zwischen zwei genetisch unterschiedlichen Organismen (Mutter und Kind) verhindern