Seit Mitte der 1990er-Jahre das Konzept der Evidence Based Medicine (deutsch: »auf empirische Belege gestützte Heilkunde«) in die Medizin Einzug gehalten hat, erfolgen viele ärztliche Maßnahmen auf Basis der zunehmend verfügbaren »evidenzbasierten Leitlinien«. Das ist ohne jeden Zweifel sehr begrüßenswert. Von den »Gründungsvätern« der Evidenzbasierten Medizin (EBM) wurde diese ursprünglich aber durchaus differenziert als »gewissenhafter, ausdrücklicher und umsichtiger Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten« definiert.4
Ein entsprechendes Fachwissen wird also von der Ärzteschaft gefordert, um mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung ihrem Versorgungsauftrag optimal nachzukommen. Diese »bestmögliche Evidenz« ist aber erstens mit einem zum Teil enzyklopädischen Wissen verbunden und zweitens durch die geforderten Studiendesigns der EBM nicht für alle Fragestellungen immer und zweifelsfrei zu generieren. Gerade was die schiere Komplexität der lebenslangen Umwelteinflüsse, der Ernährung und damit verbundener zellulärer Mechanismen inklusive der menschlichen Genetik betrifft, müssen wir uns in vielen Fällen mit geringeren »Evidenzgraden« zufriedengeben und uns auf nachgewiesene Mechanismen (z. B. auf zellulärer und molekularer Ebene), Beobachtungen und empirische Erfahrungen verlassen. Es wäre daher vermutlich sinnvoller, von einer »wissenschaftsbasierten Medizin« zu sprechen.
Große randomisierte und kontrollierte Studien mit Tausenden Teilnehmern und entsprechender wissenschaftlicher Evidenz in Form von statistischen Signifikanzen liegen vor allem für pharmazeutische Produkte vor, da diese kostenintensiven Untersuchungen zu einem beträchtlichen Teil von den Herstellerfirmen finanziert werden. Das ist durchaus üblich und, solange dabei Objektivität herrscht, absolut vertretbar und begrüßenswert. Dass bei gesponserten Studien erheblich häufiger das »erhoffte« Ergebnis herauskommt als bei öffentlich finanzierten, zeigt aber, dass man sich auf die geforderte Objektivität nicht immer verlassen kann.5
Der sogenannte Publikationsbias trägt darüber hinaus dazu bei, dass Studien, bei denen keine Wirkung nachgewiesen werden konnte, seltener veröffentlicht werden.
Bei an sich einfachen und kostengünstigen Interventionen wie Ernährung und Lebensstil, bei denen keinerlei Produkt vermarktet wird, steht selten ein finanzkräftiges Unternehmen dahinter, was wiederum in vielen Fällen, verglichen zur Arzneimitteltherapie, zu einer geringeren Verfügbarkeit der geforderten evidenzbasierten Literatur führt. Darüber hinaus entzieht sich ein ganzheitliches Modell, wie etwa die »biopsychosoziale Medizin«, aufgrund des erheblich komplexeren Ansatzes in den allermeisten Fällen simplen Experimenten mit Interventions- und Kontrollgruppen. Tatsächlich aber existieren unglaubliche Mengen an wissenschaftlichen Nachweisen aus den Disziplinen der Psychoneuroimmunologie, Psychoneuroendokrinologie und Psychosomatik dafür, dass sich psychologische Prozesse wie Stress, Angst und Depression nachweislich auf körperliche Funktionen auswirken. Die Effekte sind aber mitunter stark vom Individuum, sprich vom einzelnen Patienten, abhängig und folgen selten statistischen Mittelwerten. Gleiches gilt für die Ernährungsmedizin. Menschen sind trotz aller Ähnlichkeiten, gerade was die Reaktion auf verschiedene Lebensmittel betrifft, ziemlich unterschiedlich.
Dass die ständige Forderung nach Placebo-kontrollierten, randomisierten Studien als allein seligmachende Entscheidungsgrundlage im Sinne einer Evidenzbasierten Medizin auf einer eingeschränkten Sicht der Realität fußt und wir uns auch auf Vernunft und Verstand stützen sollten, haben Gordon Smith und Jill Pell 2003 mit einer außergewöhnlichen Publikation in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal bewiesen.6
Die Autoren von der Cambridge University und dem Department of Public Health des britischen NHS veröffentlichten ein sogenanntes »Systematic Review«, also eine Gesamtauswertung aller verfügbaren Studien als Ausdruck der höchsten Evidenzklasse der EBM. Die Studie trug den spannenden Titel: Parachute use to prevent death and major trauma related to gravitational challenge: systematic review of randomised controlled trials. (Fallschirmgebrauch zur Verhinderung von Tod und schweren Verletzungen im Zusammenhang mit der Wirkung von Schwerkraft: systematische Auswertung randomisierter kontrollierter Studien.)
Um also herauszufinden, ob die Benützung eines Fallschirmes eine evidenzbasierte Intervention zur Verhinderung von Tod oder schwerem »gravitationsbedingten« Trauma darstellt, werteten sie die gesamte verfügbare medizinische Literatur nach den höchsten Kriterien der Evidenzbasierten Medizin aus und fanden keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg in Form einer Placebo-kontrollierten, randomisierten Studie, der die Empfehlung eines Fallschirmes bei Absprung aus einem Flugzeug stützen würde! Wir benutzen also beim Sprung aus einem Flugzeug eine »Maßnahme« wie den Fallschirm ohne jede wissenschaftliche Evidenz. Wir sind in diesem Fall offenbar schon allein auf Basis der allgemeinen Erfahrung bereit, den Rucksack mit gut 25 m2 Ripstop-Nylon umzuschnallen, um die fatalen Folgen des freien Falls abzuwenden. Mehr noch: Um auf Nummer sicher zu gehen, gibt es auch noch den Reservefallschirm. Alles ohne wissenschaftliche Evidenz.
Um diese Evidenzlücke zu schließen, führte 15 Jahre später Richard Yeh von der Harvard Medical School mit seinen Mitarbeitern tatsächlich eine randomisierte, kontrollierte Studie durch, welche ebenfalls im British Medical Journal veröffentlicht wurde.7
Von 92 möglichen Teilnehmern wurden schließlich 23 nach Aufklärung und Zustimmung in die Studie aufgenommen und mittels Zufallsgenerator zwei Studiengruppen (jeweils mit und ohne Fallschirm) zugeteilt. Ein ungewöhnliches Unterfangen mit spannendem Ausgang. Das zunächst einigermaßen erstaunliche Ergebnis war, dass – entgegen der auf Lebenserfahrung basierenden Einschätzung – der Gebrauch von Fallschirmen weder Tod noch schwere Verletzung signifikant verringerte. Tatsächlich fand sich überhaupt kein statistischer Unterschied zwischen den beiden Gruppen! Der Fallschirm nutzte rein gar nichts. Wie ist das möglich?
Um diesem unerwarteten Studienausgang auf die Spur zu kommen, müssen wir, wie in solchen Fällen üblich, das Kleingedruckte hinsichtlich der verwendeten »Methodik« in der Originalpublikation genauer studieren. Und siehe da, es war wieder einmal das Studiendesign, das für den unerwarteten Studienausgang verantwortlich war. Der Höhenunterschied zwischen beiden Studiengruppen betrug im Durchschnitt aufgrund des Absprunges aus einem am Boden stehenden Sportflugzeug bzw. Helikopter lediglich 0,6 Meter! Was sonst, werden Sie sagen, etwas anderes hätte mich bei dieser Versuchsanordnung auch gewundert. Tatsächlich handelt es sich bei beiden genannten Studien um nach den strengsten Kriterien der Evidenzbasierten Medizin angelegte und durchgeführte Studien (ein Systematic Review und eine randomisierte, kontrollierte Studie), die in einer hoch angesehenen medizinischen Fachzeitschrift publiziert wurden. In beiden Fällen sind Sie aber selbst in der Lage, die tiefer liegenden Ursachen für das jeweilige Ergebnis zu durchschauen. In der Realität der durchaus komplexen biomedizinischen Forschung hingegen können das in vielen Fällen auch studierte Naturwissenschaftler und Ärzte oft nur unzureichend. Abgesehen davon, zeigt uns die letztere Studie unter anderem deutlich, was passiert, wenn eine Intervention (Benutzung eines Fallschirmes) an einer Population untersucht wird, die kaum einen Benefit von der Intervention zu erwarten hat (Menschen, die aus 0,6 Metern Höhe abspringen).
Was ich mit diesen beiden wirklich lesenswerten Publikationen zeigen will, ist, dass die Interpretation von wissenschaftlichen Daten eine durchaus diffizile Sache sein kann und dass das Fehlen von bewiesenem Nutzen und das Fehlen von Nutzen nun einmal nicht das Gleiche sind. Diese Schlussfolgerung soll aber keinesfalls bedeuten, dass wir durch reduktionistische Experimente die Welt und uns nicht doch ein wenig besser verstehen lernen können. Tatsächlich haben wir in den letzten Jahrzehnten viel dazugelernt.
Einfache Mechanik, lineares und