In die Küche zurückgekehrt, läuft Sophie vor sich hin murmelnd auf und ab, bevor sie ihre Arbeit wieder aufnimmt. Ein Fluch. Eine Strafe. Auf sie ist die undankbare Aufgabe gefallen, der Ezra Blinds Mutter nicht gewachsen war. Aus ihrem Schoß ein zweiter Ezra. Aber nachdem sie ausgiebig geflucht und gebetet hat, Gott möge verhüten, dass ihr Zorn dieses unschuldige Kind treffe – lieber solle ein zweiter Ezra Blind zu ihr ins Bett kommen, auf dass sie ihn gegebenenfalls erwürge –, nachdem sie also genug geflucht und gebetet hat, weiß sie, dass Joshua keine böse Reinkarnation seines Vaters ist. Und wenn Jonathan auch ein bisschen aussieht wie Onkel Joske, der zum Landstreicher wurde … Und Toby, sie weiß schon, dass sie ihre Tochter durch zu viel Nachsicht verwöhnt hat. Sie hat fürchterliche Ängste, dass sie eines Tages vergewaltigt wird, auf einem weißen Pferd reitend, in ihrem Sonntagskleid, wie in diesem gräßlichen schwedischen Film. Aber sie weiß, dass das alles Unsinn ist. Sie weiß, dass Toby schon ganz in Ordnung ist. Sie weiß –
*
Das Heft liegt auf der ersten leeren Seite aufgeschlagen – leer bis auf den Fleck, den ein moskitoähnliches Insekt bildet, das spät in den Herbst hinein überlebt hat. Das aufs Blatt gefallen war und zitternd auf gebogenen Beinen dasteht, durchsichtig fast, blasser als sein Schatten. Natürlich kann man mit einem Insekt auf dem Blatt nicht schreiben. Man will es wegpusten, schüttelt das Heft, schnippt geschickt mit dem Finger, aber das todgeweihte kleine Monster lässt sich nicht entfernen, es haftet weiter, fest angewurzelt, mit winzigen, für das nackte Auge unsichtbaren Klauen in die poröse Substanz des Papiers verkrallt. Es gibt nur eine Lösung: eine Hand unter den harten Heftdeckel geschoben, ihn anheben und fest zuschlagen. Fest zugedrückt halten und bis zehn zählen. Es passiert so schnell, es kann gar nichts gefühlt haben, man weiß das. Sobald es richtig getrocknet und in das Papier eingezogen ist, kann man anfangen zu schreiben. Gut gelungen. Der Schlag hat das Insekt in einer überaus anmutigen Haltung fixiert; die Beine hängen wie im Flug herab, eins ausgestreckt, etwas länger als die anderen, die Flügel engelhaft gefaltet. Von einer schönen bräunlich-goldenen Färbung wie auf alten Stichen.
… Bewusstwerdung, ein lebenslanger Kampf. Weil ungezählte Aufbrüche, selten ein Ankommen – meistens irrig. Als Ausgangspunkt kann das zwar nicht belegte, dennoch folgenschwere Ereignis dienen, da die Kinderhand zum ersten Male Sophie Alexandra Landsmann (eigentlich Landsmann Sophie Alexandra, wie es bei den Ungarn üblich ist) auf den Deckel ihres Schulheftes schrieb; oder auch eines der ersten Male, als die Kinderhand diesen Namen schrieb, denn ohne Zeit kann es keine Erinnerung geben. Ein Kind, das seinen Namen auf sein Schulheft schreibt, bezeichnet den Ausgangspunkt für einen Kampf und nicht für eine Bewusstwerdung. Das Kommen und Gehen des Bewusstseins verläuft ohne Bezeichnung. Kein erstes Mal, kein Unterschied zwischen Kommen und Gehen. Unzählbar: Tropfen eines undichten Wasserhahns in einem verlassenen Haus. Der Kampf findet in der Zeit und gegen die Zeit statt, so viel ist gewiss. Das Ziel ist weniger klar. Die Start- und Ziellinien ziehen. Einen Kurs bestimmen. Aus dem Morast der Erinnerung und der Zersplitterung der Gegenwart etwas bergen – aber was?
*
Sie denkt an ihre glückliche Liebesaffäre in New York.
Seine Zunge ergießt unter ihren Lidern einen Regen von wolligen Mammutherden, Bisons, springenden Rentieren, einen wilden Eber mit Stoßzähnen. Ihr Kopf füllt sich und wird so schwer, dass er von allein davonrollt.
Wie würdest du unsere Beziehung definieren?, fragt er. Technisch gesehen sind wir ein Liebespaar, sagt sie nach einer Weile. Und nichttechnisch? (Ihr fällt kein Ausdruck ein, der umfassend genug wäre.)
Sie hat sich schon ganz gut daran gewöhnt, wie er herumhüpft und über die Möbel klettert. Normalerweise benehme ich mich nicht so, sagt er und schleudert mit den Füßen die Bettdecken in die Luft. Nicht doch, spricht sie im Schlaf, du lässt das ganze Wasser auslaufen. Und hat sich aus Protest zum Ball zusammengerollt. Hast du nicht noch mehr Decken? Er hat alles, was sich im Schrank befand, auf sie gehäuft. Er neckt sie mit einer Haarbürste. Aber sie weiß, dass er das nicht ist, greift nach seinem Handgelenk und zieht ihn hinein. Sie sehen ein, dass all dies sehr albern ist. Sie werden aufstehen und Zeitung lesen.
Der Tag hängt in der Schwebe – ein mattgoldenes Gewebe, auf welchem der Pinsel eines impressionistischen Meisters in willkürlicher Anordnung die vertraute Einrichtung eines New Yorker Apartments skizziert hat: die Whiskyflasche, die Nescafe-Dose, Dosensuppen und Gewürze auf dem Regal, eine aufgerissene Zuckerpackung, Aschenbecher, Zeitschriften und eine Obstschale auf dem Boden. Ein tropischer Garten auf Luft gemalt. Das Bewusstsein, zur Zeit ein wanderndes Organ, das tief im Rumpf eingebettet ist, passiert die pulsierenden Herzklappen und die Bauchhöhle, den Eingeweiden entgegen; das Bewusstsein, von außerordentlicher Schärfe, stellt in diesem Moment überrascht und belustigt fest, wie ein altes Rätsel sich in einer einfachen Darstellung entfaltet. Willkürlich oder unwillkürlich stürzt der Arm in den leeren Raum, streckt die Hand sich vor, um eine Birne zu ergreifen, und bleibt, ebenso grundlos, auf der Frucht liegen. Das Bewusstsein, inzwischen bequem in der Leber versunken, findet darin eine wundersame Bedeutsamkeit. Gern würde es sich davon Notiz machen; tut es aber nicht; genauso wenig wie etwa ein dicker Mann, von heißem Badewasser bedeckt, von seiner Offenbarung Notiz macht. Er kann es nicht. Das Papier würde ja nass werden. Außerdem ist es undenkbar, dass er seinen Arm aus dem Wasser hebt: es würde seine Einsicht beeinträchtigen.
Woran denkst du, fragt er, du bist so schweigsam. Sie lächelt. Alle Gedanken sind aus ihrem Kopf vertrieben. Ihr Gesicht ist nur noch Fleisch. Außerhalb, auf dem Bücherbord hockend oder von der Decke hängend wie eine kleine Harpyie, ringt die Sorge ihre Hände.
Sie lacht. In einem kurzen, phosphoreszierenden Aufflackern erblickt sie über die herabgesunkene Schulter des Geliebten das lächelnde, gezierte Haupt der Göttin, durch deren Laune sie ruiniert worden ist, und lacht zurück. Diese Visionen dienen nur der Zerstreuung.
Er hat ihr versprochen, ihr heute beim Verschnüren der Pakete zu helfen. Stattdessen lieben sie sich, nach dem Baden, wie vorauszusehen war. Es ist schrecklich, verliebt zu sein. Er ist schon aufgestanden, duscht schon wieder. Weinst du?, fragt er sie. Er hat sich gerade rasiert, legt sich neben sie und fragt: Willst du dich nicht anziehen? Und sie liegen da und sehen sich schweigend an, und das Schweigen wird weder lang noch schwer. Er setzt ihr Gesicht aus lauter Halbmonden zusammen.
Es ist ihm offensichtlich egal. Alle Stühle sind zerbrochen. Es gibt keinen Platz für das saubere Geschirr und die Wäsche. Sie wird eben selber Regale anbringen. Damit wenigstens –, sie beendet den Satz nicht. Alles hängt davon ab, aber sie kann es nicht erklären. Er spielt mit einem silbernen Maßband; zieht das stählerne Band hervor. Es springt von allein zurück, in sein winziges Metallgehäuse zurückschnellend, sobald er es loslässt. Er spannt das Stahlband um ihre Schultern: achtzehn Inch. Sie verlangt es jetzt, um sein Rückgrat zu messen; dann wickelt er es ihnen um die Taille, um den Hals. Gibt die Messwerte