Nach Amerika und zurück im Sarg. Susan Taubes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susan Taubes
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800556
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sondern Pakete, ganze Koffer gingen unerklärlich verloren. Sie gab sich größte Mühe, auf die Sachen zu achten, und wenn sie all ihren Bemühungen zum Trotz verloren gingen, fand sie sich eben damit ab, ganz anders als Ezra, der die Erinnerung an den verlorenen Gegenstand immer wieder aufs Neue beschwor. Ganz gleich, ob ihm ein Stück teuer gewesen war oder er es nur gerade benötigte, mit der Entdeckung jedes neuen Verlusts zählte er bekümmert alle Dinge auf, die ihnen seit dem Tage ihres gemeinsamen Reiseantritts verloren gegangen waren. Dies tat Sophie nicht, oder sie behielt es für sich. Man entdeckte den Verlust und empfand ihn als schmerzlich, aber einmal reicht; das war Sophies Einstellung. Verlorene Dinge verlangten, dass man sie beklagte. Ach ja, man konnte nie genug um die Ohrringe trauern, die man in irgendeiner Seitengasse in Genua erstanden hatte. Aber es widersprach Sophies Prinzipien, den Verlust einer Sache mehr als einmal zu erleiden. Wie konnte Ezra nur für Dinge Partei ergreifen? Ganz sicher war sich Sophie dabei allerdings nicht. Trotz ihrer Prinzipien machten ihr diese verlorenen Stücke zu schaffen, und es half auch nichts, dass sie sich sagte: Ein Glück, die bin ich los! Unmöglich, so etwas heute noch zu tragen! Sie sandten ein geisterhaftes Phantom aus: dort, auf dem Frisiertisch irgendeines Hotelzimmers. Dies musste wohl im Wesen der Dinge liegen, schloss Sophie daraus, und ihrem Wesen als Frau mit Prinzipien oblag es, sich dem zu widersetzen. Wenn mich dieses Ding noch immer verfolgt, überlegte sich Sophie, muss es daran liegen, dass ich seinen Verlust nicht so tief und schmerzlich empfunden habe, wie es sich gehört hätte. In dem Fall kann man aber nichts mehr tun: ich habe den Moment verpasst, oder das Ding hat seinen Moment verpasst; darum kehrt es immer wieder. Was aber den Verlust von Dingen betraf, die sie wahrhaftig schmerzten, diesen trug sie zutiefst in ihrem Innern, mit ihm verschmolzen. Hätte sie einmal die Gesamtsumme der verlorenen Gegenstände wissen wollen, so hätte sie nur den letztverlorenen erwähnen müssen, und Ezra würde zu rechnen begonnen haben, heute dies, gestern das, den ganzen Weg zurück. Aber Sophie interessierte das nicht. Rechnen war Männersache. Das taten ihr Vater sowie ihre beiden Großväter.

      Ja, sie liebte das Reisen. Es ist die einzige Art zu leben, sagte Sophie immer, die einzige Art, in der Zeit zu leben: mit ihr zu entfliehen. Sophie wurde unruhig, wenn sie zu lange an einem Ort verweilten.

      Sophie versuchte mit allen Mitteln, Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen, aber es klappte nicht immer, weil sich Ezra mit bloßem Jammern und Nörgeln nicht zufriedengab: er suchte den Streit. Überdies hatte Sophie auch ihre eigenen Kümmernisse, die sie nicht immer schweigend übergehen konnte. Also stritten sie sich.

      Ezra gewann immer die Oberhand. Egal, worum es ging oder wer den Streit begonnen hatte, es gelang Ezra immer, sie ins Unrecht zu setzen. Sophie konnte nicht begreifen, wie er das anstellte. Er besaß wohl ein besonderes Talent dazu. Und immer endete es damit, dass er ihr sagte, sie sei die beste Frau der Welt.

      Ezra begann immer mit einer winzigen Kleinigkeit. So winzig, dass Sophie gar nicht begriff, dass er auf einen Streit aus war. Nebensache, dachte sie, das hat man in einer Minute erledigt; oder eine Nichtigkeit, an der man sowieso nichts ändern kann, die man nach einer Minute wieder fallenlässt. Ezra aber setzte es fort und ritt auf seinem Thema so lange herum, bis es Sophie dämmerte, dass es gar nicht um den Schlips ging, den er gerade nicht finden konnte, weil sie es versäumt habe, ihn einzupacken, so wie sie schon vordem andere Gegenstände zu packen versäumt habe, oder etwa um ihre Gleichgültigkeit gegenüber seinem Aussehen oder ihrem eigenen Aussehen – ihre Missachtung der äußeren Erscheinung überhaupt. Es ging eigentlich um sämtliche Folgen, die ihre Einstellung für ihr gemeinsames Leben hatte und auch weiterhin haben würde. Das Problem war eigentlich riesengroß.

      Ezra entwickelte sein Thema mit steigendem Pathos; mal lief er schweren Schrittes auf und ab, mal hielt er inne, um nicht von seinem rhetorischen Höhenflug abzulenken oder um eine dramatische Pause zu unterstreichen. Sophie beobachtete seinen Zeigefinger: er zeichnete Luftkreise oder rührte in einer unsichtbaren Brühe. Im Steilflug schoß er auf das Erhabene zu, vollführte eine Schlaufe und verhielt, waagrecht auf sie gerichtet. Der Zeigefinger wedelte sie mit zunehmender Bedrohlichkeit an, als ob er nicht wisse, was er mit sich anfangen solle. An diesem Punkt holte sie tief Luft, entweder um Ezra zu entgegnen oder um aus dem Zimmer zu stürzen.

      Sophie hasste Auseinandersetzungen. Zumeist behielt sie ihren Kummer für sich. Oder er brach plötzlich aus ihr hervor. Oft überlegte sie noch, ob sie eine Angelegenheit überhaupt erwähnen und wie sie dies am besten anstellen solle, und während sie noch innerlich mit der Frage des Wie und Ob beschäftigt war, brach es aus ihr hervor, zu ihrer beider Überraschung – wobei Sophie wahrscheinlich die Überraschtere war, denn Ezra war es von Haus aus gewohnt, angebrüllt zu werden; für Sophie dagegen war es ungewohnt, sich selbst schreien zu hören.

      Ezra lehnte sich dann zurück, hörte ihr ganz ruhig und aufmerksam zu. Machte er sich den Augenblick, in dem Sophies Aufmerksamkeit ganz von ihrer Wut eingenommen war, zunutze, um sich aufs Sofa sinken oder ins Bett gleiten zu lassen, oder war das der Ausgangspunkt für ihren Streit? Ezra im Bett, Sophie auf den Beinen, alles Mögliche musste erledigt werden, allein schafft sie das nie. Sophies blitzartige Einsicht, dass ihr Leben zu der Aussichtslosigkeit, je etwas erledigen zu können, zusammengeschrumpft ist. Ezra zurückgelehnt, sich räkelnd und gähnend – womöglich war dieses Bild der wahre Auslöser für ihre Wut.

      Sophie Blind konnte es gar nicht fassen, was da für verheerende Worte aus ihrem Mund hervorbrachen oder dass sie solche Worte aussprach. Außerdem ließ sich Ezra weder Bestürzung, Unglauben noch Erschütterung anmerken. Sie sah an ihm vielmehr einen Ausdruck von Zufriedenheit: er saß jetzt aufrecht, sah sie mit großen Augen an, nickte Zustimmung: es tobt das Weib nach Weiber Art; ein ziemlich erfolglos unterdrücktes Lächeln auf den Lippen, seine Miene deutlich besänftigt, eine Maske von Strenge oder auch nur von Erschrecken aufgesetzt, verschwindet er unter der Bettdecke, als ihre vorschießenden Arme mit krallenden Fingern sich anschicken, den Inhalt ihrer Worte auf seiner zarten Haut auszutragen, und versteckt sich, bis der Sturm sich gelegt hat. In seiner Deckung hat er wenig zu befürchten, es ist bloß eine Frau, die ihr Gewicht auf ihn wirft, deren Fäuste meist nur auf Wand, Luft oder Matratzen trommeln; schlimmstenfalls ein kleiner Rippenstoß, wenn ihre Faust einmal die Sperre von Armen und Knien durchbricht. Nur eine Frau, die jetzt vor Wut kochend ganz fließend und formbar geworden ist: seine eigene geliebte Ehefrau, er weiß schon, wie er’s mit ihr anstellen muss, und neun Monate später ist ein Kind da.

      Oder wenn sie sich nicht auf ihn stürzte, wartete er eben ab, bis der Sturm sich ausgetobt hatte, was ja unweigerlich früher oder später geschehen musste. Wartete ab, bis aus dem wild peitschenden Regen ein dünnes Nieseln geworden war, um es dann mit dem letzten schwachen Tröpfeln aufzunehmen, Sophie Blinds ermattetes Wiederholen: »… immer muss ich alles selber machen …« Dann, von der leisesten Andeutung eines Vorwurfs in tiefster Seele getroffen, hub Ezra mit der Aufzählung an, erinnerte sie an die Situationen, in denen er ihr geholfen, die Last von den Schultern genommen, ihr Geschenke gekauft hatte; in schöner Reihenfolge folgten alle guten Taten, die er je für sie vollbracht, freilich nur wenige Beispiele aus dem unerschöpflichen Vorrat, bis sie den Kopf nicht mehr heben konnte, von der Fülle seiner Wohltaten, so ausführlich und rührungsvoll vorgetragen, schier überwältigt. Die Schwere der Rücksicht, Hingabe und Fürsorge so vieler Jahre flößt Sophie ein Gefühl von Ohnmacht und Benommenheit ein. Sie weiß nicht mehr, ob sie sitzt, steht oder liegt, ihr ist zum Ersticken. Als sie sich endlich von seinem Körper umgeben, von seinem Gewicht erdrückt fühlt, empfindet sie Erleichterung. Und neun Monate später ist ein Kind da.

      Wenn Sophie ein Kind austrug, war sie glücklich; nichts konnte sie dann aus der Ruhe bringen. Sie aß, schlief und lief spazieren, wann es ihr passte. Sie hörte Ezra meistens gar nicht, wenn er sie um etwas bat. Sie war schwanger. Meine Frau ist schwanger, pflegte Ezra vielsagend zu erklären, wenn man sie auf Gesellschaften vermisste oder ihre abwesende Art bemerkte. Sophie mochte sich während ihrer Brutzeit nicht mit gesellschaftlichem Unsinn abgeben, und in der Still- und Ziehperiode noch weniger. Sie hatte keinen Spaß an kneifenden Schuhen oder Argumenten für und wider. Sie blieb daheim und ölte sich den Bauch oder ihr Baby oder beides.

      Ezra sah, wie glücklich Sophie in ihren Schwangerschaften war, und schenkte ihr noch ein Kind. Sie badete gern ausgiebig in der Wanne. War ein Baby da, so nahm sie es mit, sie nahm alle Kinder mit in die Wanne, und sie spielten zusammen mit