Nach Amerika und zurück im Sarg. Susan Taubes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susan Taubes
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800556
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vernünftig?« fragt er und sagt: »Sei doch vernünftig.«

      Sie kann nicht vernünftig sein, wenn sein Vorschlag auch noch so vernünftig klingt – vernünftig und verlockend für jemand anders. Sie kann aber nicht dieser andere Jemand sein. Auch wenn ihre eigene Stellung unbegründbar ist, sie hat eigentlich gar keine Stellung, gar keine Pläne, hat gar nichts. Sie kann sich nur auf ihre Gefühle verlassen. Daher muss sie ablehnen. Vielleicht befindet sie sich in Wirklichkeit in einem anderen Zimmer, eine junge Frau, die Ezra Blinds Heiratsantrag vor fünfzehn Jahren anhört. Diesmal muss sie nein sagen.

      »Sicher haben wir Fehler gemacht«, sagt er gerade, »aber wir sind keine Kinder mehr. Ich habe mich verändert, Sophie, ich verspreche es dir.«

      Auch wenn es ihm wirklich ernst ist, sie kann es sich nicht verzeihen, dass sie beim ersten Mal den Fehler gemacht hat, noch kann sie riskieren, diesen Fehler zu wiederholen. Auch wenn es vernünftig sein sollte. Manchmal ist es absolut erforderlich, unvernünftig zu sein.

      »Ich will dich nicht bedrängen, du musst dich jetzt nicht entscheiden. In zwei Wochen komme ich wieder nach Paris. Denk inzwischen darüber nach, Sophie«, sagt er abschließend, »und jetzt, nachdem wir uns in aller Freundschaft ausgesprochen haben …« Er bittet sie, ins Bett zu kommen. Es ist nach drei Uhr früh, bemerkt er, und schließlich gehört sich das so. »Aber warum denn nicht, Sophie?« Er lacht. »Komm, ich werde um dich werben. Sophie, du weißt doch, auch wenn ich mich mit anderen Frauen rumtreibe, du bist doch die Einzige, die ich je geliebt habe. Du bist die einzige Frau, die mich wirklich erregt hat.« Er wird es ihr beweisen, auf der Stelle. Sie legt sich nicht hin. Sie verlangt, dass er ihr Bett verlässt. Lachend steht er auf, legt den Arm um sie und zieht sie aufs Bett.

      »Nein, Ezra, bitte nicht. Die Kinder wachen sonst auf.«

      »Aber warum denn nicht? Merkwürdig. Du bist wirklich seltsam.« Er lächelt sie erstaunt an. Nicht mit ihrem eigenen Mann schlafen, wo sie doch mit anderen Männern schläft? Er weiß Bescheid – ihre Affäre mit Roland und die mit einem reichen, jungen Kunstliebhaber, den sie über seine Freundin kennengelernt hat. Er weiß alles, und es ist ihm ja recht, wenn sie ihren Spaß dran hat. Man kann ihm wirklich nicht vorwerfen, dass er nicht großzügig sei, ihr Ehemann. »Komm schon, sei doch nett zu mir. Leg deinen Kopf ruhig auf meinen Arm, hab keine Angst«, lacht er. »Na gut, dann leg ihn aufs Kopfkissen.«

      »Ich kann nicht«, flüstert sie.

      Seine Hand beginnt, ihre Brüste zu streicheln, er lacht noch immer. »Aber Sophie. Baby. Weinst du? Ich weiß, wie du dich fühlst. So schlimm kann es doch nicht sein. Tu einfach so, als wär’ ich ein Fremder. Nicht weinen, bitte nicht weinen …« Sie steht vom Bett auf. »Was ist denn los? Komm zurück, Sophie.«

      »Ich kann nicht«, sagt sie, während sie ihren Mantel anzieht.

      »Was kannst du nicht?«

      »Ich kann nicht vergessen, dass ich dich einmal geliebt habe.«

      »Wo gehst du denn hin?«

      Sie muss sich etwas Bewegung verschaffen, sagt sie ihm ruhig. Nein, allein, sie muss jetzt allein sein. Es ist schon in Ordnung, versucht sie ihn zu beruhigen. Um sieben ist sie zurück, wenn die Kinder aufwachen.

      »Geh wieder ins Bett. Ich gehe schon. Zieh deinen Mantel aus.« Sie wird den Mantel nicht ausziehen, bis er nicht fort ist. Sie will, dass er geht. »Jetzt. Sofort.«

      »Ich darf mich doch hoffentlich anziehen. Du willst also wirklich, dass ich gehe?« Man könnte beim Zuschauen rasend werden – er bringt es nicht fertig, sein Hemd ordentlich reinzustecken. Er plärrt schamlos wie ein Kind, die dicken Tränen fallen auf seinen Schuh. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit ihm ins Bett zu steigen – einfach so, irgendwas machen, einander an den Ohren ziehen oder was … »Ich geh’ schon, ich gehe …«, schluchzt er, während sie vor Wut zittert. Aber er geht sehr langsam. Er ist draußen. Sie verriegelt die Tür. Aber er ist gar nicht weg. Sie hört ihn noch auf dem nächsten Treppenabsatz heulen. »Die Einzige, die mich je wirklich geliebt hat … ich weiß … ich weiß … keine Frau wird mich je …«, hört sie ihn im Stiegenhaus jammern. Er will es ja so haben. Ezra gewinnt immer. Nach einer Weile geht er. Natürlich. Seine Verrücktheit geht immer nur bis zu einem gewissen Punkt.

      Und in zwei Wochen ist er wieder zurück und spielt dieselbe komische Todesnummer von vorne.

      *

      Es läuft darauf hinaus, dass sie keine Wahl haben. Sie liest den langen Brief aus New York noch mal, eigentlich kein Liebesbrief, findet sie, aber es wird daraus deutlich, dass er ihre Beziehung ebenso wenig abbrechen kann wie sie. Er kann ihr Schweigen als Abbruch der Beziehung nicht akzeptieren. Ein richtiges Ende ist unter den Umständen unmöglich, aber kein Ende ist unerträglich. Wie ein unvollständiges Buch, zum Verrücktwerden; man weiß, dass irgendwer die fehlenden Seiten besitzt; die Adresse auf dem Umschlag, der vor ihr liegt – oder, wenn in Schicksalshand, umso mehr Grund für sie, diese Reise zu unternehmen. Ein Wahn … Eine Notwendigkeit … Sie muss die Reise unternehmen, allein schon um den Mythos zu zerstören, der sich von menschlicher Zeit nährt, der mit jedem Brief wächst, der geschaffen wird von einer Wasserschranke, Meilen bloß, die sich in Flugstunden umwandeln lassen, und diese wiederum in französische Francs …

      Vielleicht will er ihr nur immer weiter Briefe schreiben; will, dass sie ihm immer wieder schreibt …

      Was eigentlich in dem Brief stand, den Sophie am Ende doch stempelte und in den Schlitz des blauen CTP-Kastens steckte, entzieht sich des Zugriffs. Als eine Woche später Ivans Antwort kam, stieg sie gerade die schäbige Treppe hinauf, mit Flaschen von limonade, Vichy, vin ordinaire, baguettes beladen, den Brief oben auf der vollgepackten Einkaufstüte hielt sie mit ihrem Kinn eingeklemmt. Bis zum vierten Treppenabsatz widerstand sie der Versuchung, ihre Last abzustellen, um den Brief zu lesen, dann gab sie nach. Mit der nächsten Post ein weiterer Brief von ihm, in dem er schrieb: »… vergiss, was ich dir in einem Anfall von Wahnsinn in meinem ersten Brief geschrieben habe …«, der aber im Wesentlichen dieselbe Aussage enthielt – sie riss ihn auf ihrem Weg aus dem Haus auf und las ihn, während sie den Boulevard hinuntereilte. Über den ersten Brief musste sie weinen. Über den zweiten lachen.

      Welchen Sinn hatte das Leben für Sophie auf dem Flug nach New York, wo sie zur Regelung ihrer Angelegenheiten hinflog, um sich in Paris richtig einrichten zu können? Keinen.

      Welchen Sinn hatte das Leben für Sophie auf dem Flug von New York, nachdem sie ihre glückliche Liebesaffäre gehabt hatte? Keinen.

      Welchen Sinn hatte das Leben für Sophie, als sie die Maschine in Orly bestieg, um zu ihrem Liebhaber zurückzufliegen? Welchen Sinn würde ihr Leben nach ihrer Ankunft dort für sie haben, nach einer Woche, einem Jahr, nach zehn Jahren –?

      Über den Sinn seines Lebens nachzudenken und zu grübeln hatte Sophie immer für eine unnütze und müßige Beschäftigung gehalten. Schlimmer als unnütz, es war eindeutig gesundheitsschädlich. Kurzum, eine schlechte Angewohnheit. Und wie die meisten schlechten Angewohnheiten wurde auch diese einem von anderen Leuten aufgedrängt und von ihnen gefordert, von ihren Urteilen, die in ihren Fragen oder Behauptungen enthalten waren. Mit der Sinnlosigkeit der Urteile anderer Leute konfrontiert, zog Sophie natürlich ihre eigene Form von Sinnlosigkeit vor. Mit der Zeit begriff sie, dass sie umgänglicher werden musste, wenn sie Auseinandersetzungen vermeiden wollte. Schweigen allein bewirkte noch keine Besänftigung, auch Nicken und Lächeln reichten nicht aus.

      Leute wollten immer eine Aussage haben. Meistens sprach Ezra für sie. Sie fand es ganz in Ordnung, wenn er in einer Gesellschaft ihre Meinung vertrat. Sie selbst würde sich nie so ausdrücken, auf keinen Fall so geschickt und überzeugend, wie Ezra es tat; sie könnte es gar nicht, sie konnte diese Art von Aussage überhaupt nicht machen. Die Aussagen, die Ezra für sie oder über sie machte, setzte er aus ihren Gesprächen, ihren Bemerkungen über Bücher, die er ihr zu lesen gegeben hatte, zusammen. Die daraus resultierende Aussage war weder richtig, noch war sie falsch; sie war einfach Ezras Erfindung für ein Zimmer voll Leute, die sonst das Schweigen seiner Frau als beleidigend empfunden hätten.

      Es war seltsam, ein wenig peinlich, wenn Ezra in ihrem Beisein