Sigrid Weigel
I
Mit größter Anstrengung öffnet sie die Augen, aber es ist in einem anderen Zimmer; dann eilt sie durch eine belebte Straße, an feinen Geschäften vorbei, die Auslagen an der Place Vendôme erregen ihre Aufmerksamkeit, Uhren so flach wie Münzen; aber sie weiß, es kann nicht stimmen, sie weiß, sie muss in einem Zimmer im Bett liegen, wenn sie die Augen aufschlägt. Immer wieder schließt und öffnet sie ihre Augen, jetzt liegt sie im Bett; sie erkennt das Zimmer; das Licht im oberen Stockwerk eines Hauses am Hudson River. Aber sie kann die Augen nicht lang genug offenhalten; mit jedem Augenaufschlag verändert sich das Zimmer, mal ist das Fenster auf einer anderen Seite, mal verstellt eine dunkle Masse den Blick. Jetzt erkennt sie die Gestalt eines Mannes, erinnert sich an den Schmerz, der sie zerriss, den ihr Körper nicht erwartet hatte – ist er ihr Liebhaber? –, im Mantel steht er an ihrem Bett, sie fragt sich, ob sie wie eine Wilde gebrüllt hat, ob er das wüste Rasen und Lästern gehört hat, das über ihrem hervorsprudelnden Blut ausbrach. Und wenn, er tut, als habe er nichts gehört, aus Gleichgültigkeit oder Güte, weil er das, was er sah oder hörte, lieber nicht wahrhaben will. Schön und würdevoll will er sie in Erinnerung behalten.
Sie beginnt zu sprechen, sie ist jetzt weit weg, ihre eigene Stimme wie von ferne, überraschend schnell und flüssig. Sie lacht. Noch nie hat sie so gelacht. Die Form des Mannes ist verschwommen, eine dunkle leblose Masse, die ein wenig pendelt; jetzt erblickt sie das Weiß seiner nackten Sohlen – er hat sich erhängt!
Sophie Blind glaubt es natürlich nicht, sie weiß, dass man etwas nicht glauben muss, nur weil es einen erschreckt hat; sie hat Philosophie und Epistemologie studiert, über das Problem der Verifizierung veröffentlicht. Außerdem sieht sie jetzt nichts mehr. Vielleicht war es nur ein aufgehängter Mantel, der, als das Flugzeug schwankte, mitschwang. Oder stroboskopisches Sehen.
Der Schmerz ist vergangen, hat sich buchstäblich gehoben. Zuerst konnte sie nicht sehen. Was bedeutete dieses weiße Streicheln? Gott malte mit dem allerweichsten Pinsel die Welt auf ihre Netzhaut; Sterne, fallende Flocken, Blüten, Alleen blühender, wilder Kastanien, jedes Blatt ein grünes Kitzeln. So hatte sie noch nie gelacht. Aber auch das war nicht glaubhaft. Nur weil dich etwas in Verzückung versetzt, ist es nicht unbedingt glaubwürdig.
Sie liegt in einem Zimmer im Bett; an dieser vertrauten Vorstellung hielt Sophie Blind auch während ihrer wildesten Träume fest.
Aber träumt sie denn?
Sie sitzt in einem Zimmer und schreibt. Das einzige Problem dabei ist, dass alle Seiten des kleinen Blocks bereits beschrieben sind mit Worten einer fremden Sprache. Sie setzt sich im Bett auf. Sie kennt das Zimmer nicht, ein hoher Raum – ein Marmorwaschtisch mit Krug, der Schrank, französische Provinz – ein altmodisches Hotelzimmer erster Klasse in einem Badeort in der Normandie. Offenbar ein Traum, denn jetzt erinnert sie sich an den Mailänder Industriellen, in dessen Alfa Romeo sie die Küste entlangsausten – Ort und Zeit wären damit bestimmt, aber was ist aus ihm geworden? Sie muss sich das alles notieren – schnell, bevor er kommt – auf dem Papierspitzendeckchen des Frühstückstabletts. Das Zimmer hat sich wieder verändert, aber daran ist sie gewöhnt. An unvertraute Zimmer ist Sophie Blind gewöhnt. Sie ist ihr ganzes Leben gereist.
Dieses Zimmer mit den am Fensterrahmen befestigten bedruckten Musselingardinen, den Vorhängen von unbestimmbarer Farbe, dem hochaufgetürmten Bettzeug könnte in der Budapester Wohnung ihrer Großmutter gewesen sein. Bildnisse bärtiger Männer in Silberrahmen bedecken die Wand. Da ist Betriebsamkeit von Lieferanten am Dienstboteneingang; das Klopfen von Teppichen über der Brüstung, das Schrubben von Steinfliesen; Gäste werden empfangen und hinausgeleitet; die Tür der Kredenz knarrt jedes Mal, wenn ein weiteres Weinglas entnommen wird.
Sie betrachtet eine Seite der bebilderten Bibel von Doré, eine Ansicht der Sintflut: unten im Bild wirbelndes Gedränge nackter Leiber, die Toten wollüstig über die Klippen hingebreitet, die große, weiße Arche nähert sich von oben; im nächsten Augenblick blättert jemand um: ein Hirtenidyll. Die schattenhafte Figur, die im Zimmer herumtapst und Dinge aus den Truhen hervorzieht, könnte ein Vetter oder Onkel sein. Seltsam, das kitschige Zubehör – Stiefel, Unterröcke, Hüte und Fächer aus den zwanziger und neunziger Jahren. Die rasche, sichere Grazie, mit der er die Dinge handhabt, lässt auf ihren Liebhaber schließen; ihr Liebhaber, der sie neckt, der sich den Pelzkaftan ihres Urgroßvaters überzieht, dann die Silberfuchsstola der Tante; seine Nachahmung geht zu weit. Aufhören, bettelt sie, aber da zieht er sich schon das glitzernde Paillettenkleid ihrer Mutter über den Kopf: ein geschminktes Frauengesicht erscheint, ein vollkommenes Ebenbild mit blonden Locken und dem schwarzen Schönheitspflästerchen knapp unterhalb des linken Mundwinkels; sie sitzt im engen, tief dekolletierten Kleid da, die Beine übereinandergeschlagen à la Marlene Dietrich. – Irgendwer schüttelt das Zimmer wie ein Kaleidoskop; Kronleuchter erblühen und welken in spiegelgetäfelten Ballsälen, ein Zuviel an blendendem Licht und Widerschein. Jetzt ist sich Sophie Blind nicht mehr sicher, ob sie träumt. Eine andere Frage beschäftigt sie: Wenn du unter der Wirkung ihrer teuflischen Droge stehst, kannst du dich erinnern, sie eingenommen zu haben – angenommen, sie haben sie dir nicht heimlich in den Tee gekippt, die Dreckskerle, angenommen, es war kein fauler Trick –, du Idiot hast dich freiwillig dafür hergegeben, kannst du dich unter Einfluss der Droge noch daran erinnern? Sophie Blind erinnert sich nicht.
Sie schaut zu ihrem Geliebten auf, überrascht von seiner Redewendung: »… jenes Glück, so unwahrscheinlich, welches wir Liebe nennen …« Er sitzt an ihrem Bettrand und raucht mit ernster Miene. Den Kopf zurückgeworfen, blickt er in die Ferne; warum nur, fragt sie sich, sie möchte seine Augen sehen. »… weil du tot bist, Sophie«, hört sie eine Stimme sagen wie aus einem Brief. »Tot.«
»All dies haben wir schon einmal durchgemacht –«, will sie sagen. Stattdessen schnellen ihre Augen hoch, um einen letzten flüchtigen Blick auf sein liebes Gesicht zu werfen. Es ist weg. Wohin? Verschwunden. In den Wandbehang? Eine mittelalterliche Jagdszene auf verblichen grünem Hintergrund; oben links schwebt in blasser Skizze eine Burg. Im Vordergrund, en face dargestellt, springen gefleckte Dalmatiner auf ihren Hinterbeinen aus dem Bild heraus – welche Virtuosität der Verkürzung im Mittelalter, erstaunlich! Moderne, Reformation, Renaissance sind also doch nur Pennälerwitze, wie sie schon immer vermutet hat – die Welt ging, wie vorgesehen, im Jahre 1274 unter, wenn man es nur geglaubt hätte. »… Warum musste es ein zwanzigstes Jahrhundert geben?« Eine ihr vertraute Stimme wiederholt die Frage eines Studenten mit schwerfälligem, deutschem Akzent. Das war in einem anderen Traum. Jetzt kann sie nichts mehr sehen. Eigentlich sieht sie zu viel und zu schnell. Es ist ganz gleich, ob sie die Augen öffnet oder schließt. Ihr Liebhaber ist im Zimmer und möchte, dass sie ganz ruhig ist. Wer veranstaltet in ihrem Kopf diese Jagdpartie? Vögel werden im Flug abgeschossen und fallen bleischwer und dunkel von allen Seiten herab, während ebenso schnell neue hineingeworfen werden, mit schrill durchdringendem Schreien.
Sie weiß, es ist vorbei. Sie kann jetzt nicht aufhören. Sie wird sich an ihre neue Stimme gewöhnen müssen.
Ja, ich bin tot. Schon als ich ankam wusste ich, dass ich tot bin, aber ich wollte es nicht als Erste sagen. Nicht gleich bei meiner Ankunft. Ich war mir nicht ganz sicher, weißt du. Alles sah so neu aus, die Wassertanks auf den Dächern, die breiten Straßen, die schweren Glastüren; auf dem Gehsteig Fußball spielende Buben. Als sei ich das erste Mal in New York. Meine Wahrnehmung ist manchmal verzerrt. Aber noch nie habe ich mich so quicklebendig gefühlt wie eben jetzt. Das ist das Verwirrende. Und deine Gegenwart, lauschend. Oder du betrachtest mein Gesicht im Schlaf, so friedlich, sagtest du immer. Wo ich doch weiß, dass du weit weg bist … Vielleicht sprichst du jetzt gerade die Worte, die alles klären, vielleicht sind Worte auch überflüssig. Die Frauen suchen im Grunde nur das Glück, sagtest du, das Glück eher als Macht oder Wahrheit. Mir aber liegt an der Wahrheit. Jetzt, wo ich tot bin, liegt mir allein an der Wahrheit.
Ich starb an einem Dienstagnachmittag, von einem Auto überfahren, als ich gerade die Avenue George V überquerte.