Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Nobert Reck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nobert Reck
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783786732716
Скачать книгу
Sie ist heute sehr viel weiter verbreitet als der Fundamentalismus – auch wenn ihr ein gewisser fundamentalistischer Beigeschmack ebenfalls nicht abzusprechen ist. Wie tief diese Art des Denkens ins westliche Bewusstsein eingedrungen ist, zeigt der Vergleich mit anderen Kulturen. Der Schriftsteller Peter Bichsel macht das anhand einer Reiseerinnerung anschaulich:

      Als ich vor vier Jahren in Bali war, begann mich der balinesische Hinduismus zu interessieren. Er hat sich zweitausend Jahre unabhängig vom indischen Hinduismus entwickelt und zu einer faszinierenden humanen Form gefunden. Ich habe selbst eine religiös pietistische Vergangenheit, die ich ganz schön verdrängt hatte; in Bali packte es mich wieder. […]

      Ein junger Balinese wurde mein Hauptlehrer. Eines Tages fragte ich ihn, ob er denn glaube, dass die Geschichte vom Prinzen Rama – eines der heiligen Bücher der Hindus – wahr sei.

      Ohne zu zögern antwortete er mit »Ja.«

      »Du glaubst also, dass Prinz Rama irgendwann irgendwo gelebt hat?«

      »Das weiß ich nicht, ob der gelebt hat«, sagte er.

      »Dann ist es also eine Geschichte?«

      »Ja, es ist eine Geschichte.«

      »Und dann hat wohl jemand diese Geschichte aufgeschrieben – ich meine: ein Mensch hat sie geschrieben?«

      »Sicher hat sie ein Mensch geschrieben«, sagte er.

      »Dann könnte sie ja auch ein Mensch erfunden haben«, antwortete ich und triumphierte, weil ich dachte, ich hätte ihn überführt.

      Er aber sagte: »Es ist gut möglich, dass einer die Geschichte erfunden hat. Wahr ist sie trotzdem.«

      »Dann hat also Prinz Rama nicht auf dieser Erde gelebt?«

      »Was willst du wissen?« fragte er. »Willst du wissen, ob die Geschichte wahr ist, oder nur, ob sie stattgefunden hat?«

      »Die Christen glauben, dass ihr Gott Jesus Christus auf der Erde war«, sagte ich, »im Neuen Testament ist das von Menschen beschrieben worden. Aber die Christen glauben, dass dies die Beschreibung von Wirklichkeit ist. Ihr Gott war wirklich auf der Erde.«

      Mein balinesischer Freund überlegte und sagte: »Davon hat man mir schon erzählt. Ich verstehe nicht, warum es wichtig ist, dass euer Gott auf der Erde war, aber mir fällt auf, dass die Europäer nicht fromm sind. Stimmt das?«

      »Ja, es stimmt«, sagte ich. (13 f.)

      Was im balinesischen Hinduismus noch selbstverständlich möglich ist, ist in Westeuropa zerbrochen: Die biblischen Geschichten lassen sich im Rahmen des bürgerlich-westlichen Denkens nicht mehr ohne Weiteres als bedeutsam, als wahr erzählen und verstehen. Das historische Fragen führt beständig auf Abwege. Man fragt, ob etwas »stattgefunden« hat. Doch die dabei gewonnenen Erkenntnisse können die Bedürfnisse nach Sinn, nach einer tragenden Deutung des eigenen Daseins nicht erfüllen. Sie bleiben die »zufälligen Geschichtswahrheiten«, die schon Lessing für belanglos erklärt hat.

      Am präzisesten hat in meinen Augen der Neutestamentler Wolfgang Stegemann erfasst, was hier geschehen ist. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert spricht er von der »Historisierung aller Lebensbereiche«. Diese habe auch das Christentum ergriffen und bei der Lektüre der Bibel zu einem »historic turn« geführt:

      Von jetzt an dienen nicht mehr die Bibel und ihre Erzählungen (von der Weltschöpfung bis hin zu den Geschichten über Jesus) als Referenzrahmen der Welterfahrung. Vielmehr fragte man sich umgekehrt: Passen die Erzählungen der Bibel noch zur »wirklichen« (wissenschaftlich erforschten) Welt? Die Geschichten der Bibel werden seitdem einer Kritik – einer Prüfung – unterzogen, die ihren Maßstab an der Vernunft bzw. den Wissenschaften findet. (259)

      Diese »umgekehrten Fragen« waren die Fragen des aufgeklärten Bürgertums. In einer komfortablen Situation wollte es wissen, was zu ihm passte und was ihm plausibel erschien. Die Schrift diente ihm nicht mehr zur Befragung der eigenen Lebenssituation und zur Wahrnehmung der Welt aus einer anderen Perspektive – vielmehr diente nun die eigene ­Perspektive zur Beurteilung der Schrift und ihres Wahrheitsgehalts. Mit anderen Worten: Das zum »Herrschafts- und ­Bedürfnissubjekt in der Gesellschaft« (Metz, III/1, 50) aufgestiegene Bürgertum ließ sich nicht mehr von biblischen Erzählungen infrage stellen, sondern folgte eigenen Anschauungen und entschied selbst, was es für glaubhaft hielt. Natürlich fiel sein Urteil, das es gemäß den naturwissenschaftlichen und weltanschaulichen Überzeugungen der Zeit gewonnen hatte, in den meisten Fällen negativ aus: Die biblischen Erzählungen, so wie man sie verstand, waren mit den Wahrheitsansprüchen der neuen Zeit nicht vereinbar. Und damit hörten diese Erzählungen – trotz immer feinerer historischer Instrumentarien – auf, zu den Leuten zu sprechen.

      Das gilt übrigens – bis heute – nicht nur für diejenigen, für die das Christentum darum nicht mehr diskussionswürdig ist, sondern auch für gläubige Christinnen und Christen: Sie können das geschichtliche Denken, mit dem sie aufgewachsen sind und das ihre ganze Lebenswelt bestimmt, nicht per Beschluss abstellen – der geschichtliche Blick bestimmt auch ihre Suche nach der Wahrheit der Religion.

      Brachte also das neue Denken insgesamt eher Fluch als Segen? Ist es (mit-)verantwortlich für den großen Schwund an Gläubigen? Für manche Kirchenleute, die gerne das Problem irgendwo »außerhalb« lokalisieren, mag es so scheinen. Aber natürlich ist es mit dieser Denkform wie mit vielen »innerweltlichen« Dingen: Sie sind weder gut noch böse – sie sind. Die Dimension der Geschichte wurde ja nicht erdacht, sondern entdeckt. Und diese Entdeckung kann so wenig rückgängig gemacht werden wie die Entdeckung Amerikas. Es gibt kein Zurück zu einem vorkritischen Denken. Und es gibt auch nicht die Wahl, Ja oder Nein zur Geschichte zu sagen – wir sind immer schon ein Teil von ihr. Es fragt sich nur, wie wir damit umgehen. Daran entscheidet sich, wie lebensnah wir denken, argumentieren, glauben.

      Genau an diesem Punkt liegt deshalb auch die Herausforderung für die Kirchen und die Theologie. Den verschiedenen Reaktionen widmen sich die nächsten Kapitel.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.

/9j/4QAYRXhpZgAASUkqAAgAAAAAAAAAAAAAAP/sABFEdWNreQABAAQAAAAoAAD/4QQraHR0cDov L25zLmFkb2JlLmNvbS94YXAvMS4wLwA8P3hwYWNrZXQgYmVnaW49Iu+7vyIgaWQ9Ilc1TTBNcENl aGlIenJlU3pOVGN6a2M5ZCI/PiA8eDp4bXBtZXRhIHhtbG5zOng9ImFkb2JlOm5zOm1ldGEvIiB4 OnhtcHRrPSJBZG9iZSBYTVAgQ29yZSA1LjMtYzAxMSA2Ni4xNDY3MjksIDIwMTIvMDUvMDMtMTM6 NDA6MDMgICAgICAgICI+IDxyZGY6UkRGIHhtbG5zOnJkZj0iaHR0cDovL3d3dy53My5vcmcvMTk5 OS8wMi8yMi1yZGYtc3ludGF4LW5zIyI+IDxyZGY6RGVzY3JpcHRpb24gcmRmOmFib3V0PSIiIHht bG5zOnhtcE1NPSJodHRwOi8vbnMuYWRvYmUuY29tL3hhcC8xLjAvbW0vIiB4bWxuczpzdFJlZj0i aHR0cDovL25zLmFkb2JlLmNvbS94YXAvMS4wL3NUeXBlL1Jlc291cmNlUmVmIyIgeG1sbnM6eG1w PSJodHRwOi8vbnMuYWRvYmUuY29tL3hhcC8xLjAvIiB4bWxuczpkYz0iaHR0cDovL3B1cmwub3Jn L2RjL2VsZW1lbnRzLzEuMS8iIHhtcE1NOk9yaWdpbmFsRG9jdW1lbnRJRD0iYWRvYmU6ZG9jaWQ6 aW5kZDoyNmRmMGVmNC04NDlkLTExZGMtYTBmNC1kMDJiZDgyODUyM2YiIHhtcE1NOkRvY3VtZW50 SUQ9InhtcC5kaWQ6OTZDRDBDRTUyRDlDMTFFQ0JBOERCQUM5RjYxM0FGNkIiIHhtcE1NOkluc3Rh bmNlSUQ9InhtcC5paWQ6OTZDRDBDRTQyRDlDMTFFQ0JBOERCQUM5RjYxM0FGNkIiIHhtcDpDcmVh dG9yVG9vbD0iQWRvYmUgUGhvdG9zaG9wIEVsZW1lbnRzIDE4LjAgKFdpbmRvd3MpIj4gPHhtcE1N OkRlcml2ZWRGcm9tIHN0UmVmOmluc3RhbmNlSUQ9InhtcC5paWQ6MjA0M2I5ZjItZDQxZC1jNTQz LWI5NGYtNGM0Y2Q5NzZkMDU3IiBzdFJlZjpkb2N1bW