Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Nobert Reck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nobert Reck
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783786732716
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war es nicht Reimarus allein, der diesen Umschwung verursacht hat; sein Werk atmet vielmehr auf allen Seiten den Geist seiner Zeit, die mehr und mehr nach handfesten historischen Tatsachen verlangte.

      Neben dieser Orientierung an den Fakten hinter den Erzählungen förderte Reimarus in seiner Beschäftigung mit den Texten – das ist der zweite wichtige Aspekt – aber auch eine Erkenntnis zutage, die nicht hinter, sondern durchaus in den Texten zu finden war: die Einsicht nämlich, dass die Worte und Taten Jesu nur vor dem Hintergrund des jüdischen Denkens seiner Zeit angemessen zu verstehen sind, da Jesus als Jude intensiv aus den Traditionen, Schriften und der Sprache des Judentums schöpfte.

      Wichtig, so Reimarus, sei es deshalb zu fragen: Im Rahmen welcher jüdischen Vorstellungen mussten Jesu Äußerungen gedeutet werden? Auf welche Traditionen bezog er sich? Wogegen wandte er sich in seiner Zeit? Und wie mussten wohl die zentralen Begriffe der Evangelien – beispielsweise das Himmelreich, der Messias, der Sohn Gottes – »nach Jüdischer Redensart« (Fragmente, 8) verstanden werden?

      Reimarus war aufgefallen, dass Jesus in den Evangelien solche Begriffe niemals erläuterte oder neu definierte; er muss sie also bei den »ersten Christen, die ursprünglich Juden gewesen waren«, in ihrer traditionellen jüdischen Bedeutung als bekannt vorausgesetzt haben. Jesus habe demnach keine neuen Mysterien oder Glaubenslehren offenbart, sondern lediglich die Tora und die Schriften der Propheten ausgelegt:

      Ich kann nicht umhin, einen gemeinen Irrthum der Christen zu entdecken, welche aus der Vermischung der Lehre der Apostel mit der Lehre Jesu sich einbilden, daß Jesu Absicht in seinem Lehr-Amte gewesen, gewisse zum Theil neue und unbekannte Glaubensarticul und Geheimnisse zu offenbaren, und also ein neues Lehrgebäude der Religion aufzurichten, dagegen aber die Jüdische Religion nach ihren besonderen Gebräuchen, als Opfern, Beschneidung, Reinigung, Sabbathen und andern levitischen Ceremonien, abzuschaffen. [… Im Gegenteil:] Er trieb nichts als lauter sittliche Pflichten, wahre Liebe Gottes und des Nächsten: darin setzet er den ganzen Inhalt des Gesetzes und der Propheten: und darauf heisset er die Hoffnung zu seinem Himmelreich und zur Seligkeit bauen. Uebrigens war er ein gebohrner Jude und wollte es auch bleiben; er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen: er weiset nur, daß das hauptsächlichste im Gesetze nicht auf die äusserlichen Dinge ankäme. Was er sonst […] vorbringet, das war alles sowohl den Juden bekannt, und der damaligen Jüdischen Religion gemäs […]

      (Fragmente, 13)

      Solche Sätze sind umso erstaunlicher, als sie nahe an dem sind, was in der Gegenwart für das christlich-jüdische Gespräch von grundlegender Bedeutung ist: die Anerkennung Jesu als eines Juden, die Anerkennung, dass die Worte Jesu in allem mit dem Judentum übereinstimmen, und die Anerkennung der meisten neutestamentlichen Schriften als jüdisch geprägte Schriften.

      Man kann sich leicht vorstellen, dass der »geschichtliche Blick«, der Jesus immer klarer als einen praktizierenden Juden zeigte, in den christlichen Kirchen für wachsende Beunruhigung sorgte. Was bedeutete es für das Christentum, wenn Jesus wirklich seinen jüdischen Glauben weder verlassen noch überwinden wollte? Und wenn es so war – wie konnte er dann zugleich der Sohn Gottes und der kirchlich verkündigte Christus sein? Hier taten sich Fragen auf, die die Mitte des christlichen Glaubens betrafen.

      Zunächst allerdings ist festzuhalten, dass Reimarus nicht nur heftige Proteste hervorrief, sondern bei vielen auch auf entschiedene Zustimmung stieß. Immerhin hatte er gezeigt, wie viel Erstaunliches man in den biblischen Texten entdecken konnte, wenn man sich nicht von der Vorstellung einschüchtern ließ, dass die Bibel in ihrer vorliegenden Form das irrtumslose heilige Wort Gottes war.

      Das inspirierte schon im 18. Jahrhundert zahlreiche Theologen, ihren Arbeitsschwerpunkt auf die Erforschung der Bibel zu verlegen und mit historischen Studien zu beginnen. Die Bibelwissenschaft nahm in den folgenden Jahrzehnten einen ungeheuren Aufschwung. Bald schon korrigierte sie einige der gröbsten Missverständnisse von Reimarus. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Identifizierung und Diskussion der verschiedenen Textgattungen, die in der Bibel anzutreffen sind. Nicht alles konnte als geschichtlicher Bericht veranschlagt und dann als Betrug kritisiert werden. Mythische und legendenhafte Darstellungen, poetische Texte, liturgische Vorlagen und anderes mehr sollten in ihrer jeweiligen Eigenart erkannt werden, wenn man sie recht verstehen wollte.

      Natürlich gab es auch weiterhin die Frage nach den Fakten, den Versuch, biblische Geschichten als Geschichte zu verifizieren. Insbesondere die frühen Archäologen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Heilige Land aufbrachen, trauten der Bibel noch durchaus zu, geschichtliche Ereignisse getreulich festgehalten zu haben. So nahmen die meisten von ihnen biblische Aussagen als Ausgangspunkt und suchten dafür nach archäologischen Belegen. Die Frage, »wie es würklich gewesen ist«, beherrschte auch dann noch das Denken, als mit dem Namen Reimarus kaum noch jemand etwas anzufangen wusste.

      Eine Gruppe protestantischer deutscher Bibelwissenschaftler soll in jener Zeit an den See Gennesaret aufgebrochen sein, um die Beschaffenheit seiner Ufer und seine Tiefe einmal gründlich zu untersuchen: Gab es im Uferbereich eventuell breitere flache Abschnitte oder größere Steine, die eine »natürliche« Erklärung dafür abgeben konnten, dass Jesus seinen Jüngern über das Wasser entgegenkam? Oder musste man sich Jesu Gang auf dem Wasser anhand philologischer Erwägungen doch eher als einen Gang am Wasser denken – weil anderes eben nicht »denkbar« war?

      Natürlich förderte die biblische Archäologie auch bedeutende Erkenntnisse zutage. Ich erwähne als Beispiel nur die Entdeckung von literarischen Zeugnissen aus der Handelsmetropole Ugarit an der Nordwestküste des heutigen Syrien. Dieser kanaanäische Stadtstaat hatte seine Blütezeit zwischen 1400 und 1200 v. Chr. – also lange bevor sich Israel als Königreich konstituierte. Ausgrabungen seit dem Jahr 1929 brachten zahlreiche Tontafeln mit Texten in einer bis dahin unbekannten Sprache in Keilschrift ans Licht. Die Entzifferung zeigte, dass es sich um eine dem Hebräischen verwandte Sprache handelte; unter den Texten waren Verse aus dem ugaritischen Kult. Besonders aufsehenerregend war dabei, dass viele Texte Entsprechungen zu biblischen Schriften aufwiesen. Die Religion des alten Israel war demnach tiefer in der kanaanäischen Kultur verwurzelt, als man bis dahin angenommen hatte. Schließlich sprach ja die Bibel viel von Konflikten zwischen Israel und Kanaan. Nun konnten weitere Untersuchungen zeigen, dass manche Psalmen in ihrem Kern aus alten kanaanäischen Liedern bestanden, also nicht vom Himmel gefallen, sondern aufgegriffen und weiterentwickelt worden waren. Alles hatte eine Entstehungsgeschichte – auch die Gottessprache im alten Israel. Die Frage, mit welcher Offenbarungstheologie das zu deuten war, stellte sich immer dringlicher. Die traditionelle Theorie von der wörtlichen Inspiration der Bibel durch Gott war nicht mehr haltbar.

      Darüber hinaus hatten im Laufe des 19. Jahrhunderts manche Theologen begonnen, den »geschichtlichen Blick« nicht nur auf die Bibel, sondern ebenso auf die christliche Dogmengeschichte zu richten. Auch hier ließ sich zeigen, dass die Dogmen nicht ewig und unverrückbar die Kernsätze des christlichen Glaubens festhielten, sondern ihrerseits eine Geschichte hatten und Entwicklungen durchliefen. Was war, war nicht immer so gewesen, und deshalb musste es auch nicht unbedingt so bleiben.

      Das mag bei Menschen unserer Zeit nur ein Schulterzucken hervorrufen, doch damals wurde das von kirchlicher Seite und von manchen Theologen als Bedrohung wahrgenommen, auf die die Kirche in etlichen Fällen mit Exkommunikation und Verboten reagierte. (Dazu mehr im nächsten Kapitel.)

      Aber natürlich waren solche Machtmittel hilflos gegen das Rad der Zeit. Es drehte sich weiter. Nicht nur im Bereich des Christentums brachten historische Fragestellungen und Forschungen aufsehenerregende neue Erkenntnisse hervor; auch auf allen anderen Gebieten spielte die Frage nach der Geschichte eine immer wichtigere Rolle – mit entsprechenden Rückwirkungen auf den christlichen Glauben.

      Als etwa Charles Darwin (1809–1882) anhand seiner Forschungen die Evolutionstheorie entwickelte, war das nicht nur eine bahnbrechende Entdeckung, die die Entstehung der Tierarten aus früheren Formen sowie die Geschichte der Erde und der Menschheit in einem völlig neuen Licht zeigte, sondern wurde auch als Schlag gegen jene Theologie erlebt, die die Schöpfungsdichtung im Buch Genesis immer noch als »Bericht« las und fest von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen ausging.

      Die Fortschritte in den Wissenschaften