Norbert Reck
Der Jude Jesus
und die Zukunft des
Christentums
Zum Riss zwischen Dogma und Bibel
Ein Lösungsvorschlag
Matthias Grünewald Verlag
Inhalt
4. Auf der Suche nach Bedeutung
Zitierte und erwähnte Literatur
WIDMUNG
Gewidmet ist dieses Buch
dem Andenken meines Lehrers im Alten Testament,
Manfred Görg (1938–2012).
Seinem kritischen Blick
hätte ich es gerne ausgesetzt.
Vorwort
Der vorliegende Essay geht der Frage nach, warum der christliche Glaube in Westeuropa sich immer schwerer erzählen lässt und warum immer mehr Menschen dem Christentum den Rücken kehren. Ich vertrete darin die These, dass diese Krise nicht in der mangelnden Selbstdarstellung des Christentums wurzelt, sondern in der Theologie: in ihrem Zurückschrecken vor der jüdischen Identität Jesu seit dem Beginn der Moderne – mit weitreichenden Konsequenzen.
Wie die Dinge meiner Ansicht nach zusammenhängen, werde ich auf den folgenden Seiten Schritt für Schritt zeigen: von der Frage der Autonomie der Menschen in der Moderne (Kapitel 1) zu den Veränderungen seit der Zeit der Aufklärung (Kapitel 2), von ihren Auswirkungen auf die Theologie (Kapitel 3) bis zum Problem der christlichen Judenfeindschaft (Kapitel 4).
Helfen kann in dieser Situation das theologisch noch weithin unaufgearbeitete Denken von Michel Foucault, das die kritischen Impulse der Aufklärung aufgreift, aber weit über deren Grenzen und Schieflagen hinausgeht (Kapitel 5). Wie mithilfe von Foucaults Diskursanalyse biblische Texte und Grundbegriffe neu zum Sprechen gebracht werden können, versuche ich im Anschluss zu zeigen (Kapitel 6). Und zuletzt komme ich zurück auf die Ausgangsfrage nach der verlorenen Erzählbarkeit des christlichen Glaubens (Kapitel 7).
Statt einer weit ausgreifenden Untersuchung habe ich lieber einen Essay geschrieben, um meine These ohne große Umschweife auf den Punkt zu bringen und nicht in einer Vielzahl von Belegen zu vergraben. Die Darstellung beschränkt sich deshalb auf wenige sprechende Beispiele, »Probebohrungen« in verschiedenen Schichten der christlichen Geschichte. Die Versuchung war zwar immer wieder groß, noch weiteres interessantes und aufschlussreiches Material aufzunehmen, aber ich habe mich bemüht, ihr zu widerstehen und die Literatur auf ein Minimum zu beschränken.
Das Buch hat eindeutig eine katholische Schlagseite – aus dem einfachen Grund, dass sie meine Seite ist, die ich entsprechend besser kenne. Trotzdem habe ich nach Kräften auch Beispiele aus dem Protestantismus herangezogen, wo bekanntlich die Probleme nicht geringer sind.
Weiterdenken – zumal kritisches – ist ausdrücklich erwünscht. Ich bin nicht daran interessiert, Applaus zu ernten, sondern daran, dass die angesprochenen Probleme klar gesehen und diskutiert werden. Dazu will dieser Essay eine Anregung sein.
Vielen Freundinnen und Freunden, geschätzten Kollegen und Kolleginnen, verehrten Lehrern habe ich zu danken für Ermutigung und Kritik, beharrliches Nachfragen, was denn mit meinem Buch nun sei, für kritische Durchsicht einzelner Kapitel, Hinweise auf Literatur und intensive Diskussionen. Weil ich der Meinung bin, für meine Überlegungen selbst einstehen zu sollen, werde ich sie nicht namentlich aufzählen. Allzu leicht könnte der Eindruck entstehen, ich wollte mich mit ihren Namen schmücken und mit ihrer fachlichen Autorität dem Buch zusätzliches Gewicht geben. Das erschiene mir unpassend. Meine Dankbarkeit für ihre Unterstützung ist darum nicht geringer.
Kapitel 1
Skizze einer Krise
Zum Erstkommunionsunterricht bekamen wir vom Pfarrer ein Heft mit Bildern zum Ausmalen, mit kleinen Erzählungen über Jesus, über Brot und Wein sowie mit Lückentexten, in die wir die entscheidenden Begriffe eintragen sollten. Ich mochte das Heft; es war bunt und freundlich. Auf einer der ersten Seiten stand groß geschrieben »Zum Kommunionsunterricht kommen wir …«, und darunter waren drei Zeichnungen sowie jeweils ein Wort, das den angefangenen Satz zu Ende führte. Das erste Bildchen war ein Abreißkalender, und daneben stand »… regelmäßig«, das zweite zeigte eine Uhr (»pünktlich«), und als drittes war da ein lachendes Jungengesicht (»gerne«).
Ich sah mir diese Seite oft an, während der Pfarrer redete, und dachte verträumt über den Zusammenhang zwischen den Bildern und Wörtern nach. Den dritten Punkt fand ich am merkwürdigsten. Ich fragte mich, ob so ein breit lachendes Gesicht eine gute Illustration für »gerne« war, und fand es ein bisschen übertrieben. Und noch etwas stimmte nicht: Es schien mir zwar in Ordnung, dass man zur regelmäßigen Teilnahme am Unterricht und zum pünktlichen Erscheinen aufgefordert werden konnte. Aber ob ich gern oder ungern kam, war in meinen Augen nichts, was man mir vorschreiben konnte.
Es empörte mich nicht; ich nahm es einfach zur Kenntnis. Aber ich spürte, dass hier ein Bereich berührt wurde, der der Kontrolle durch andere entzogen war. Ich spürte einen Funken von Autonomie. Vielleicht sind mir deshalb meine Gefühle aus dieser Zeit so stark in Erinnerung geblieben.
Offenbar dachte die Religionspädagogik damals noch, dass man mit solchen Bildern und Worten auf Kinder einwirken könne. Es war die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil; ich erinnere