Und so bekam allmählich auch das überkommene metaphysische Weltbild Risse. Die seit Parmenides (ca. 520–455 v. Chr.) bestehende griechisch-europäische Vorstellung, dass hinter der Realität eine ewige Struktur, ein absoluter Wesenskern – eine Metaphysik also – erkennbar und benennbar sei, wurde mit der Beobachtung konfrontiert, dass auch die Bestimmungen dieses Wesenskerns ihre Geschichte hatten und Wandlungen erlebten. Es wurde immer klarer, dass die Menschen in ihrer Zeitgebundenheit und Vergänglichkeit nur zeitgebundene, vergängliche Erkenntnisse haben konnten. Ein Denken, das die Welt, wie der Philosoph Gianni Vattimo sagt, »im Namen einer letzten Wahrheit um jeden Preis in eine Einheit bringen« wollte, verblasste zunehmend an der Vielfalt ebendieser Welt und ihrer Wissensformen. Was als ewige »innerste Einheit« der Welt präsentiert wurde, spiegelte allzu durchschaubar nur die Machtverhältnisse der jeweiligen Zeit. War Gott einst der oberste Monarch, der noch über dem Kaiser stand, so wurde er später zur Naturkraft, zum Willen oder zur Zukunft.
Erschüttert wurde dieses Denken nicht nur von der jungen Geschichtswissenschaft, sondern auch von einer weiteren, radikal geschichtlichen Erfahrung: vom Kolonialismus und seinen Rückwirkungen auf Europa. Die Existenz nichteuropäischer Kulturen und Religionen trat verstärkt ins Bewusstsein der Europäer; und es zeigte sich, dass diese nicht einfach als »primitiv« etikettiert werden konnten, sondern Denken auf hohem Niveau pflegten. Der hellsichtige protestantische Theologe Ernst Troeltsch (1865–1923) sprach 1893/94 davon, dass die »Zusammenbestehbarkeit« des Christentums mit anderen Welt- und Lebensanschauungen zukünftig »das eigentliche Geschäft aller Theologie« sein müsse (Christliche Weltanschauung, 229).
So »reifte das Bewusstsein, dass es nicht nur einen einzigen Gang der Geschichte (der dann angeblich in der westlichen Zivilisation kulminiert), sondern verschiedene Kulturen und Geschichtsverläufe gibt« (Vattimo, 11). Es gab darum auch nicht mehr nur die eine Wahrheit, die alles andere in sich enthielt. Natürlich unternahmen es Theologen und Philosophen weiterhin, Metaphysiken zu entwerfen, doch gerieten diese immer abstrakter, sodass sie zur konkreten Weltwahrnehmung der Menschen kaum noch etwas beizutragen hatten.
Die Geschichtswissenschaft und das junge Forschungsgebiet der Kulturanthropologie gingen bereits mit diesen Tatsachen um; Künstler, Literaten und freie religiöse Denker (wie etwa Leo Tolstoi) nahmen das Ende der Metaphysik intensiv wahr. Und Friedrich Nietzsches berühmtes Wort »Gott ist tot« in seinem Aphorismus Der tolle Mensch, das von vielen irrtümlich als Ausdruck des Atheismus verstanden wird, brachte präzise die empfundene Unmöglichkeit metaphysischer Aussagen zur Sprache: Nietzsche konnte nicht mehr sagen, dass Gott nicht existiere, denn das wäre wiederum eine metaphysische Aussage, also die Behauptung einer übergeschichtlichen Wahrheit, gewesen. Er musste einen geschichtlichen Ausdruck finden für das, was er sagen wollte, und er fand ihn in der Formulierung, dass Gott »tot« war. Das hieß: Gott als letztes Fundament, als absolute metaphysische Struktur des Wirklichen, war für Nietzsche und zahlreiche andere nicht mehr aussagbar, und darum konnte man diesen Gott eben auch beiseiteschaffen, »töten«.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass Nietzsche sich dem geschichtlichen Denken nicht entziehen konnte. Denn schon in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1874 wehrte er sich heftig gegen dieses Denken, das alles erschütterte, alles kontaminierte. Letztlich aber konnte er dessen umstürzende Kraft nur bestätigen:
Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig fluthet jetzt dies Problem vor unseren Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die Constellation von Leben und Historie verändert, dadurch, dass ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist? […] Es ist allerdings ein solches Gestirn, ein leuchtendes und herrliches Gestirn dazwischengetreten, die Constellation ist wirklich verändert – durch die Wissenschaft, durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll. Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven verschoben. Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Werdens, die Historie, zeigt: freilich aber zeigt sie es mit der gefährlichen Kühnheit ihres Wahlspruches: fiat veritas pereat vita. (35 f.)
»Die Wahrheit soll zutage treten, auch wenn das Leben darüber zugrunde geht«: Nietzsches Pathos bringt nicht allein das Ausmaß der Umwälzung durch das geschichtliche Denken zum Ausdruck, sondern auch dessen zerstörerische Kraft. Was einmal als Projekt der Aufklärung mit emanzipatorischen Vorzeichen und enormem Fortschrittsoptimismus begonnen hatte, was mit der Suche nach verlässlichen Fakten Klarheit schaffen wollte, was mittels geschichtlicher Perspektiven Selbstbewusstsein gegenüber Autoritäten zu fördern suchte, schlug immer deutlicher in sein dialektisches Gegenteil um: Alles wurde zu Geschichte, nichts war ewig; der Wunsch nach Eindeutigkeit wurde nicht erfüllt, sondern führte nur zu mehr Ambivalenz, weil immer neue Einzelheiten den Weg zu Verallgemeinerungen verstellten und »alle Grenzpfähle« umgerissen wurden; die Geschichte dehnte sich ins Unendliche, überflutete das Denken und bot keinen Halt mehr; die Metaphysik zerbrach … Führten also die Aufbrüche des 18. Jahrhunderts in den folgenden Jahrhunderten unweigerlich ins Unheil?
Dass alles Geschichte ist, dass alles eine Geschichte hat, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Ebenso wenig ist aber zu leugnen, dass der »weltliche«, nicht von theologischen Perspektiven vorgeprägte Blick auf die Geschichte der Menschheit, des Denkens, der Bibel Erkenntnisse hervorgebracht hat, die nicht nur für Religionskritiker interessant sind, sondern auch für Gläubige wertvoll sein können.
Die Erkenntnis etwa, dass auch »heilige Schriften« Erzeugnisse von Menschen sind, ist kein Sakrileg, sondern eine Einsicht, die zu einer tieferen und verständigeren Lektüre verhelfen kann. Texte von Menschen, Texte, die ihre Gestalt im Verlauf vieler Generationen gewonnen haben, müssen und wollen daraufhin befragt werden, welche Aussageabsichten ihre Verfasser und Verfasserinnen hatten, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind, worauf sie antworteten und wofür sie eintraten. Auch wenn die historischen Rahmenbedingungen und Intentionen der Texte immer nur annäherungsweise erschlossen werden können: In der Frage danach drückt sich auch Respekt gegenüber denjenigen aus, die sich gegen unsere Interpretationen nicht mehr wehren können.
Die simple Alternative – die fraglose Lektüre der Texte als unmittelbarer Gottesbotschaft nämlich – macht aus der Bibel einen Fetisch, einen Götzen, dem man Herrschaftsmacht oder magische Vorhersagekraft zuspricht und dem man sich unterwirft (worüber sich schon biblische Autoren lustig machten: Jesaja 44,15–20). Diese Art des Umgangs mit der Bibel macht nicht sehend, sondern blind, indem sie zeitgebundene Aussagen für ewig gültig erklärt, die man dann nur »glauben« kann, ohne sie verstehen zu müssen.
Verschiedene Spielarten des Fundamentalismus gehen bis heute so mit der Bibel um. Am Beginn der Bewegung stand eine in den USA veröffentlichte Schriftenreihe, Fundamentals, die in den Jahren 1910 bis 1915 fünf unaufgebbare »Fundamentalien« des christlichen Glaubens festzuhalten trachtete: 1. die buchstäbliche Inspiration der Bibel und damit ihre Irrtumslosigkeit; 2. die Jungfrauengeburt; 3. das stellvertretende Sühnopfer Christi am Kreuz; 4. die leibliche Auferstehung; 5. die Göttlichkeit Jesu Christi und seine unmittelbar bevorstehende Wiederkehr zum Gericht über die Menschen. Das zielte unverkennbar gegen die kritische Bibelwissenschaft; doch der Gestus des Festhaltens an wenigstens fünf »unaufgebbaren« Wahrheiten verriet auch eine tiefe Verunsicherung: War Wahrheit wirklich Wahrheit, wenn man ihre »Unaufgebbarkeit« betonen musste? Gab man damit nicht schon zu, dass alles ins Rutschen geraten war? Offenbar grassierte die Furcht, der Glaube könne der Moderne entgleiten, wenn man nicht wenigstens einige fundamentale »Fakten« entschieden bekräftigte.
So ist der Fundamentalismus einerseits eine Reaktion auf die Entwicklungen in der Moderne und andererseits selbst ihr Produkt: Auch er hält sich an vermeintliche