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Wie § 273 setzt auch § 320 voraus, dass wechselseitige Ansprüche bestehen. Dazu tritt die für § 320 entscheidende Voraussetzung: Die Ansprüche müssen im Gegenseitigkeitsverhältnis (Synallagma) stehen. Dazu genügt nicht etwa, dass überhaupt ein gegenseitiger Vertrag vorliegt, der Grundlage der wechselseitigen Pflichten ist. Vielmehr muss für die konkreten Ansprüche das synallagmatische Verhältnis geprüft werden. Denn nicht alle Ansprüche, deren Grundlage ein gegenseitiger Vertrag ist, stehen in der von § 320 vorausgesetzten engen Beziehung zueinander. Das trifft vielmehr grundsätzlich nur für die Hauptleistungspflichten zu.
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Nebenleistungspflichten und Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2) stehen dagegen nicht im synallagmatischen Austauschverhältnis. So begründet beispielsweise der Kaufvertrag auch die Abnahmepflicht des Käufers (§ 433 Abs. 2). Diese Pflicht des Käufers steht grundsätzlich aber nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis zur Pflicht des Verkäufers aus § 433 Abs. 1 S. 1.[40] Aus besonderen Umständen des Einzelfalls kann sich aber anderes ergeben, wenn beispielsweise ein Räumungsverkauf vorliegt; denn dann hat der Verkäufer ein dem Käufer erkennbares und schutzwürdiges besonderes Interesse daran, die Kaufsache auch „loszuwerden“.[41] Die Kaufpreiszahlungspflicht aus § 433 Abs. 2 steht dagegen immer im Gegenseitigkeitsverhältnis zu § 433 Abs. 1 S. 1. Das Gleiche gilt für die Pflicht aus § 433 Abs. 1 S. 2: Der Käufer kann daher die Kaufpreiszahlung gem. § 320 Abs. 1 grundsätzlich so lange verweigern, bis der Verkäufer seiner Nacherfüllungspflicht nachgekommen ist.[42] Auch eine etwaige Pflicht des Verkäufers, die für den Betrieb einer Computeranlage nötigen Handbücher zu liefern, gehört zu den im Synallagma stehenden Pflichten des Verkäufers.[43]
b) Wirksamkeit und Fälligkeit des Anspruchs auf die Gegenleistung (beachte aber: § 215)
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Wie § 273 setzt § 320 voraus, dass der Gegenanspruch des Schuldners auch wirksam und fällig ist. Insofern kann auf die Ausführungen zu § 273 verwiesen werden. Allerdings kann der Schuldner die Einrede des nicht erfüllten Vertrags auch auf eine verjährte Gegenforderung stützen.[44] Dabei ist – anders als beim Zurückbehaltungsrecht, vgl § 215 – nicht erforderlich, dass Anspruch und Gegenanspruch einmal unverjährt gegenüberstanden. Das folgt aus der engen Verbindung synallagmatischer Ansprüche, die in Entstehung und Fortbestand miteinander eng und dauerhaft verbunden sind. Nicht die Verjährung, sondern erst der geschuldete Leistungserfolg trennt diese Verbindung.
c) Vertragstreues Verhalten des Schuldners
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§ 320 setzt zusätzlich voraus, dass sich der Schuldner selbst vertragstreu verhält: Nur wer selbst erfüllungsbereit ist und am Vertrag festhalten möchte, kann die Einrede aus § 320 geltend machen.[45] § 320 dient gerade der Erzwingung der Gegenleistung, die im Synallagma aber auch Erfüllungsbereitschaft des Leistenden voraussetzt. Wenn also der Schuldner seine eigene Leistung gänzlich und endgültig verweigert – vielleicht, weil er meint, nicht zur Leistung verpflichtet zu sein –, muss er weitergehende Rechtsbehelfe geltend machen (etwa Schadensersatz gem. §§ 280 Abs. 1, 3, 281 verlangen oder gem. § 323 zurücktreten). Daher besteht kein Zurückbehaltungsrecht, wenn der Schuldner ablehnt, seine eigene Leistung zu erbringen oder auch die Gegenleistung anzunehmen.[46] Denn dann wird ja der Zweck des § 320 gerade nicht erreicht, nämlich die Erfüllung der gegenseitigen Pflichten. Es ist allerdings erforderlich, dass die Weigerung des Schuldners unmissverständlich, ernstlich und endgültig ist.[47] Nicht vertragstreu handelt der Schuldner auch dann, wenn er sich im Schuldnerverzug befindet.[48] Dabei ist § 320 nicht nur dann ausgeschlossen, wenn Schuldnerverzug bereits vorliegt, sondern auch dann, wenn die ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung den Verzug erst begründet (weil die Mahnung gem. § 286 Abs. 2 Nr 3 dann entbehrlich ist).
d) Kein Ausschluss des Zurückbehaltungsrechts
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Das Zurückbehaltungsrecht darf nicht ausgeschlossen sein. Der wichtigste Fall ist die Vorleistungspflicht des Schuldners, die § 320 Abs. 1 S. 1 aE ausdrücklich anspricht. Die Parteien können individualvertraglich auch bei synallagmatischen Pflichten vorsehen, dass eine der Parteien vorleistungspflichtig ist. Vorleistungspflicht bedeutet, dass eine Pflicht früher als die andere fällig ist. Ein Beispiel bietet der Ratenkauf, bei dem der Verkäufer vorleistungspflichtig ist. Strenge Grenzen gelten allerdings für Vereinbarungen in AGB: § 309 Nr 2 lit. a schließt Vereinbarungen aus, durch die dem Vertragspartner des Verwenders die Einrede des nicht erfüllten Vertrags genommen wird oder durch die § 320 eingeschränkt wird. Die Vorleistungspflicht kann sich auch aus gesetzlichen Bestimmungen ergeben. Beispiele sind die §§ 579, 614 und 641 Abs. 1. Wenn eine Seite vorleistungspflichtig ist, greift § 321 ein.[49]
a) § 320 Abs. 2
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§ 320 Abs. 2 ist ein besonderer Ausdruck des Grundsatzes von Treu und Glauben. Wenn die andere Seite eine Teilleistung erbringt, kann der Schuldner die Gegenleistung nicht verweigern, wenn dies treuwidrig wäre. Eine Teilleistung – also etwa die Zahlung von 495.000 Euro statt der geschuldeten 500.000 Euro für das verkaufte Grundstück – muss der Gläubiger freilich nach § 266 nicht annehmen, soweit nicht ausnahmsweise § 242 eingreift. Der Gläubiger kann sich aber auch für die Annahme entscheiden. Wenn er das tut, kann sich aus den Umständen ergeben, dass die Verweigerung der eigenen Leistung nach § 320 Abs. 1 treuwidrig wäre. Das ist eine Frage des konkreten Falls unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls wie etwa des Umfangs der Teilleistung und der Bedeutung der eigenen Leistung. Die Auflassung des Grundstücks kann etwa gegebenenfalls nicht verweigert werden, wenn nur ein relativ geringfügiger Betrag (im Verhältnis zum Wert der eigenen Leistung) gezahlt wird. § 320 Abs. 2 dient so dazu, einen beiderseits gerechten Interessenausgleich im Einzelfall zu ermöglichen. So darf auch etwa der Mieter den Mietzins nicht wegen fehlender Mangelbeseitigung monatelang zurückhalten, wenn das dazu führen würde, dass er über einen längeren Zeitraum praktisch mietfrei wohnt.[50]
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Im Kaufrecht steht dem Käufer grundsätzlich die Einrede des nicht erfüllten Vertrags aus § 320 Abs. 1 S. 1 gegen den Kaufpreiszahlungsanspruch (§ 433 Abs. 2) zu, wenn der Verkäufer seine Pflicht zur mangelfreien Verschaffung der Kaufsache (§ 433 Abs. 1 S. 2) nicht erfüllt hat. Der Käufer kann also bei behebbaren Mängeln den Kaufpreis gem. § 320 Abs. 1 S. 1 so lange zurückbehalten, bis der Verkäufer den Mangel beseitigt.[51] Im Einzelfall kann sich aus Treu und Glauben etwas anderes ergeben: Der Käufer darf die Kaufpreiszahlung nicht gem. § 320 Abs. 1 S. 1 verweigern, wenn dies nach den Gesamtumständen, insbesondere wegen verhältnismäßiger Geringfügigkeit der Pflichtverletzung des Verkäufers, treuwidrig ist. Der BGH stützt dies auf § 242 bzw den „Gedanken des § 320 Abs. 2“.[52] Überzeugender ist, § 320 Abs. 2 direkt anzuwenden: Auch die Leistung einer mangelbehafteten Sache ist ein Fall der (qualitativen) Teilleistung.[53] Für die Anwendung des § 320 Abs. 2 genügt aber nicht, dass der Mangel mit verhältnismäßig wenig Aufwand beseitigt werden kann (wie etwa Kratzer im Lack eines Fahrzeugs), während der Kaufpreis sehr hoch ist.[54] Denn § 320 verfolgt nicht nur den Zweck, den Anspruch auf die Gegenleistung zu sichern. Vielmehr soll die Norm auch als Druckmittel dazu dienen, den Gläubiger zur vertragsgemäßen Leistung anzuhalten.[55]