Beispiel[11]
Stationsarzt A steckt in seinen ersten Berufsjahren als Gynäkologe. Bei einer schwierigen Geburt droht dem Säugling akute Sauerstoffnot, so dass A beherzt zupackt und am Kopf des Kindes zieht. Dieser Griff entspricht in dieser Situation aber nicht den ärztlichen Standards. Der Säugling erleidet dadurch schwere Gesundheitsschäden. Hier kann sich A nicht auf seine Anfängerschaft berufen, da er sich als zugelassener Arzt an den medizinischen Standards seiner Fachrichtung messen lassen muss. Im Krankenhaus darf jeder eine ärztliche Behandlung nach allgemeinen Standards erwarten. Die Konsequenz der Rechtsprechung in Fällen wie diesen besteht außerdem darin, dass der Fahrlässigkeitsvorwurf nicht über den Umweg begründet werden muss, der A habe die Geburtshilfe gar nicht erst übernehmen dürfen (sog. „Übernahmeverschulden“).[12] Das ist unnötig, da das Verhalten des A ohnehin nach dem objektiven Maßstab bewertet wird.
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Das Urteil über das verkehrsrichtige Verhalten richtet sich an zwei wesentlichen Kriterien aus: Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit des pflichtwidrigen Verhaltens.[13]
Zu fragen ist danach zuerst, ob bei besonnener und umsichtiger Betrachtung eine nahe liegende Möglichkeit des pflichtwidrigen Erfolges bestand. Vorbeugungsmaßnahmen vor jedweder Gefahr können grundsätzlich nicht verlangt werden.[14]
Bei einer in diesem Sinne vorhersehbaren Gefahr der Pflichtverletzung ist der Schuldner gehalten, zur Vermeidung dasjenige zu unternehmen, was aus Sicht eines besonnenen und umsichtigen Angehörigen des betroffenen Verkehrskreises ausreichend und unter Berücksichtigung des Risikoausmaßes noch wirtschaftlich zumutbar ist.[15]
Beispiel
A schuldet dem Rechtsanwalt X Honorar auf Stundenbasis für eine abgeschlossene Beratungstätigkeit. Nach § 8 Abs 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) wird die Vergütung des Anwalts fällig, wenn der Auftrag erledigt oder die Angelegenheit beendet ist. Der in Sozietät mit X verbundene Rechtsanwalt Y kümmert sich um die Akten des X in dessen Urlaubsabwesenheit. Y schickt dem A eine Mahnung wegen des noch offenen Honorars, das nicht näher beziffert wird. Y hatte allerdings übersehen, dass X dem A noch gar keine Rechnung für diese Angelegenheit geschickt hatte.
A gerät durch die Mahnung noch nicht in Verzug, weil ihm das zu zahlende Honorar nicht bekannt ist und er es allein nicht mit zumutbarem Aufwand ausrechnen kann.[16] Schließlich hängt die Höhe vom internen Zeitaufwand des X ab, der dem A nicht vollständig bekannt ist.
Achtung: Klärt A den Y über die fehlende Rechnung nicht auf, begründet dies allerdings eine Verletzung der nach § 241 Abs. 2 geschuldeten Pflicht zur Rücksichtnahme, die ihrerseits eine Haftung aus § 280 Abs. 1 auslösen kann.[17]
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Bei der Schadensersatzhaftung wegen Pflichtverletzung spielt im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung vor allem der Fall eine Rolle, in dem der Schuldner einen Rechtsirrtum geltend macht und sich darauf beruft, ihm sei nicht bewusst gewesen, zur Leistung verpflichtet gewesen zu sein.
Damit schließt der Schuldner zunächst einmal den Vorsatz aus, da dieser ja das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit erfordert. In Betracht kommt daher nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf.
Um zu verhindern, dass jeder Laie seine Haftung bei halbwegs schwieriger Rechtslage unter Berufung auf einen Rechtsirrtum abwehren kann, hat man eine strenge Betrachtung entwickelt: Der umsichtige Schuldner muss die Rechtslage sorgfältig prüfen, bei Unsicherheit Rechtsrat einholen und die höchstrichterliche Rechtsprechung beachten.[18] Entschuldigt ist sein eigener Rechtsirrtum nur dann, wenn er nach Einholung von Rechtsrat mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen brauchte.[19] Ob der Schuldner sich einen schuldhaften Irrtum seiner anwaltlichen Berater zurechnen lassen muss, werden wir uns unten näher ansehen.
Beispiel[20]
V vermietet dem M im Jahr 2005 eine Wohnung. Die vereinbarte Miete beträgt monatlich 500 €. Darin sind monatliche Vorauszahlungen auf Betriebskosten in Höhe von 150 € enthalten. Den Nebenkostenabrechnungen für die Jahre 2005, 2006 und 2007 fügte der V trotz wiederholter Aufforderung des M keine Rechnungsbelege zu den einzelnen Kostenpositionen bei. Vielmehr bot er dem M an, die Rechnungen bei ihm einzusehen. Daraufhin teilte der M auf Empfehlung seines Rechtsanwalts R, einem Fachanwalt für Mietrecht, dem V mit, die Nebenkostenvorauszahlungen ab Januar 2008 bis zur Übersendung der Belege für die vergangenen Nebenkostenabrechnungen einzubehalten.
Befindet sich M mit der Zahlung dieser Beträge in Verzug?
Der Mietzins ist einschließlich der Nebenkostenvorauszahlungen nach § 556b Abs. 1 spätestens zum dritten Werktag eines Monats im Voraus zur Zahlung fällig. Der Verzugseintritt setzt angesichts dieser gesetzlichen Bestimmung der Fälligkeit nach dem Kalender keine Mahnung voraus, § 286 Abs. 2 Nr. 1. Bei Erreichen dieser Termine steht dem V auch ein durchsetzbarer Anspruch auf die einbehaltenen Beträge zu. Das von M geltend gemachte Zurückbehaltungsrecht aus § 273 Abs. 1 besteht hier nicht, da dem Mieter grundsätzlich kein Anspruch auf Überlassung der Abrechnungsbelege im Original oder Fotokopie zusteht. Vielmehr ist er nur zur Einsichtnahme in den Räumen des Vermieters berechtigt.[21]
Fraglich ist, ob M den Eintritt der objektiven Verzugsvoraussetzungen auch zu vertreten hat, § 286 Abs. 4. Daran könnte man deshalb zweifeln, weil M bei Zurückhaltung der Vorauszahlungsbeträge davon ausging, berechtigterweise von einem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch zu machen.
Nach § 276 hat der Schuldner eigenen Vorsatz und eigene Fahrlässigkeit zu vertreten. Ein vorsätzliches Verhalten scheidet hier aus, da M irrigerweise keine Pflichtverletzung angenommen hatte und ihm damit das für den Vorsatz erforderliche Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit fehlte. In Betracht kommt damit nur ein fahrlässiges Verhalten. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Der umsichtige Schuldner muss die Rechtslage sorgfältig prüfen, bei Unsicherheit Rechtsrat einholen und die höchstrichterliche Rechtsprechung beachten. M ist hier den Empfehlungen seines Rechtsanwalts R gefolgt. M durfte auf die Kompetenz des R als Fachanwalt für Mietrecht vertrauen und musste daher davon ausgehen, R habe die Empfehlung in Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung erteilt. Aus diesem Grunde bestand für den M kein Anlass, noch einmal anderweitigen Rechtsrat einzuholen. Ihn trifft an der pflichtwidrigen Nichtleistung folglich kein Verschulden. Fraglich ist aber, ob er sich ein etwaiges Verschulden seines Rechtsanwalts zurechnen lassen muss.
Wir werden an dieses Beispiel nachher[22] wieder anknüpfen!
2. Korrektur bei bestimmten Personengruppen
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Bei Jugendlichen, hilfsbedürftigen und behinderten Menschen wird das Vertretenmüssen für eigenes Verschulden nicht nur über die Zurechnungsfähigkeit nach § 276 Abs. 1 S. 2 i.V.m. §§ 827, 828 korrigiert. Vielmehr ist anerkannt, dass diese Personen sozusagen „besondere Verkehrskreise“ bilden, bei denen abgeschwächte Sorgfaltsanforderungen gelten. Diese Personen schulden nur die Sorgfalt, die andere Personen ihres Alters bzw. ihres geistigen und physischen Zustands vernünftigerweise beobachten.[23] Auch das ist kein individueller, sondern ein objektiver Maßstab, der jedoch den Sorgfaltsmaßstab zugunsten dieser Personen erheblich abschwächt.
JURIQ-Klausurtipp