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Bezugspunkt und Prüfungsmaßstab ist das Unionsrecht in seiner Gesamtheit. Denn weder die Pflicht der Kommission, für die Anwendung der Verträge Sorge zu tragen (Art. 17 I EUV), noch die daraus korrespondieren Pflichten der Mitgliedstaaten (Art. 4 III UA 2 EUV), unterscheiden zwischen Primär-und Sekundärrechtsakten. Zudem ist eine mitgliedstaatliche Verletzung eines Sekundärrechtsakts auch gleichzeitig als ein Verstoß gegen Art. 288 AEUV anzusehen. Mitgliedstaatliche Verstöße gegen völkerrechtliche Verträge die in die (Außen-)Kompetenzen der Union fallen, und somit einen integralen Bestandsteil der Unionsrechtsordnung bilden, können ebenfalls Klagegegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein.[40] Des Weiteren werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze, und in diesem Zusammenhang insbesondere die europäischen Grundrechte (vgl. Rn. 681 ff.), erfasst.
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Sollte die Kommission bzw. der antragstellende Mitgliedstaat den Vorwurf einer Primärrechtsverletzung erheben, sich der beklagte Mitgliedstaat jedoch in der Sache zutreffend darauf berufen, dass er mit dem gerügten Verhalten seinen EU-sekundärrechtlichen Verpflichtungen nachkommt, ist das Vertragsverletzungsverfahren unzulässig. Eigentlicher Verfahrensgegenstand ist hier nämlich die Primärrechtsverletzung des Sekundärrechtsaktes, weswegen die Kommission bzw. der antragstellende Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV (vgl. Rn. 209 ff.) hätte erheben müssen.
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Die umgekehrte Argumentation ist für den beklagten Mitgliedstaat nach Ansicht des EuGH aufgrund von Art. 277 AEUV (vgl. § 12) möglich: Wenn der Mitgliedstaat sich gegen den behaupteten Sekundärrechtsverstoß mit der Argumentation verteidigt, das Sekundärrecht sei primärrechtswidrig und damit nichtig, hätte der Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage erheben müssen. Denn ein Rechtsakt der Union ist solange als rechtmäßig und wirksam zu behandeln, bis ihn der GHEU für ungültig erklärt hat oder er sich auf sonstige Weise erledigt hat. Dem Mitgliedstaat ist jedoch nach Art. 277 AEUV die Inzidentrüge möglich.[41] In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass die privilegiert nichtigkeitsklageberechtigten Mitgliedstaaten nur inzident rügen können, wenn es ihnen rechtlich oder faktisch unmöglich war, vorher zu klagen.[42] Diese Sichtweise teilt der EuGH wohl nicht.[43] Die Unionsrechtswidrigkeit eines Sekundärrechtsaktes kann also als Rechtfertigungsgrund im Vertragsverletzungsverfahren geltend gemacht werden.
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Für die Bestimmung des Klagegegenstandes in Fall 1 ist entscheidend, dass die Kommission in ihrem Schreiben vom November 2017, mit dem das Vertragsverletzungsverfahren eröffnet wurde, lediglich den Nationalitätsvorbehalt monierte, nicht aber den Tätigkeitsvorbehalt. Dessen Unionsrechtswidrigkeit führte sie erst in der begründeten Stellungnahme auf.
Es trifft zwar zu, dass die Kommission in der Einleitung des Verfahrens frei ist („kann“). Auch folgt aus dem Wortlaut des Art. 258 AEUV nicht eindeutig, dass in die begründete Stellungnahme nicht noch weitere, sachlich verknüpfte Fragen einbezogen werden können. Doch das Vorverfahren bezweckt, dem Mitgliedstaat rechtliches Gehör sowie die Möglichkeit zu gewähren, den Verstoß außergerichtlich zu beheben. Insofern ist der Klagegegenstand doppelt akzessorisch sowohl zu dem Mahnschreiben als auch zu der begründeten Stellungnahme. Auch wenn die im Mahnschreiben erhobenen Vorwürfe nicht vollständig identisch mit denen der Klage sein müssen – rechtliche Argumente und Tatsachenvortrag können später vertieft oder ausformuliert werden –, ist die den Verfahrensgegenstand eingrenzende Funktion des Vorverfahrens in Fall 1 beeinträchtigt, weil die Kommission mit dem „Tätigkeitsvorbehalt“ einen selbstständigen Vertragsverstoß später in das Verfahren einführt. Der Klagegegenstand beschränkt sich daher auf den Vorwurf, der Notarberuf sei in Deutschland deutschen Staatsangehörigen vorbehalten. Der Vorwurf, Notaren seien bestimmte Tätigkeiten vorbehalten, ist hingegen kein zulässiger Verfahrensgegenstand und die Aufsichtsklage insoweit unzulässig.
V. Ordnungsgemäße Klageerhebung
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Nach Art. 119 ff. VerfO-EuGH ist das Vertragsverletzungsverfahren als „normale“ Direktklage einzuordnen. Formell muss sie daher von einem Vertreter des Klägers ordnungsgemäß unterzeichnet und schriftlich beim EuGH eingereicht werden. Bleibt der konkrete Vorwurf einer Vertragsverletzung in der Klageschrift unklar, wird dies zu Lasten des Klägers ausgelegt und kann zur Abweisung der Klage führen.
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Die Entscheidung, ob und wann der EuGH angerufen wird, ist grundsätzlich der Kommission oder dem klagenden Mitgliedstaat überlassen. Der frühestmögliche Zeitpunkt für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ist demnach das ergebnislose Verstreichen der im Vorverfahren gesetzten Frist. In seltenen Fällen, z.B. wenn die Kommission bzw. der klagende Mitgliedstaat mit der Klageerhebung rechtsmissbräuchlich lange warten, ohne dass es gute Gründe für die Verzögerung gibt, kommt eine Verwirkung des Klagerechts in Betracht.[44]
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Auch in Fall 1 musste die Klage nach Art. 258 AEUV nicht innerhalb einer bestimmten Frist erhoben werden. Sie durfte allerdings auch nicht vor Ablauf der Frist erhoben werden, welche die Kommission in der begründeten Stellungnahme zur Beseitigung des Verstoßes gesetzt hatte. Während die begründete Stellungnahme im Februar 2018 abgegeben wurde, wurde die Klage erst im Mai erhoben, also etwa drei Monate später. Die gesetzte Frist betrug zwei Monate, was auch nicht unangemessen war.
VI. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
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Da das Vertragsverletzungsverfahren den objektiven Schutz des Unionsrechts und gerade nicht den subjektiven Rechtsschutz des Klägers bezweckt, muss keine Klagebefugnis oder ein besonderes klägerseitiges Rechtsschutzinteresse dargelegt werden. Dies folgt auch aus der Rechtsprechung des EuGH, nach der die Feststellung einer Vertragsverletzung stets auf der rechtlichen und tatsächlichen mitgliedstaatlichen Situation nach Ablauf der im Vorverfahren gesetzten Frist basiert. Spätere Änderungen werden vom EuGH nicht mehr berücksichtigt;[45] ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis kann daher im Nachhinein auch nicht entfallen.[46] Wenn also der Unionsrechtsverstoß bis zum Ablauf der im Vorverfahren gesetzten Frist nicht beseitigt wurde, geht der Gerichtshof von einem Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses aus.
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Kein Rechtsschutzbedürfnis besteht hingegen, wenn der betroffene Mitgliedstaat sein Verhalten während der gesetzten Frist ändert. Dies wird teilweise für die Fallgruppen bestritten, in denen eine akute und konkrete Wiederholungsgefahr oder mögliche Haftungsansprüche bestehen.[47] Dem ist jedoch nicht zu folgen. Durch die Beseitigung des Verstoßes hat der betroffene Mitgliedstaat die aus der begründeten Stellungnahme hervorgehenden Verpflichtungen erfüllt. Somit ist eine Klage zwangsläufig unzulässig.[48]
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In Fall 1 beseitigte die BRD den klagegegenständlichen Nationalitätsvorbehalt nach Ablauf der Beseitigungsfrist aber noch vor Klageerhebung. Teilweise wird vertreten, dass damit die Klage unzulässig wird. Ihr Rechtsschutzziel, nämlich