Vorzugswürdig kommt es jedoch allein darauf an, ob die Beseitigungsfrist der Kommission bereits abgelaufen ist. Denn mit seiner Untätigkeit gibt der betroffene Mitgliedstaat endgültig zu erkennen, dass er den Rechtsverstoß nicht einräumt und eine gerichtliche Klärung bevorzugt. Ferner hat es disziplinierende Wirkung, wenn der Mitgliedstaat nicht erst unmittelbar vor oder gar während eines Verfahrens vor dem Gerichtshof den Verstoß abstellen und eine Verurteilung vermeiden kann. Dieser Ansicht ist zugute zu halten, dass sie es konsequent unterlässt, ein ungeschriebenes Rechtsschutzinteresse als Zulässigkeitsvoraussetzung eines objektivrechtlichen Verfahrens einzuführen. Mitgliedstaaten haben während des Vorverfahrens hinreichend Zeit, Vertragsverletzungen abzustellen. Nach Fristablauf sollte ihnen keine weitere Möglichkeit gegeben werden, die Entscheidung der Kommission, Klage zu erheben, zu unterminieren. Vorliegend spricht dafür auch, dass die BRD nicht aufgrund unionsrechtlicher Bedenken den Nationalitätsvorbehalt abgeschafft hat, sondern um den Notarberuf attraktiver zu machen.
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
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Der EuGH entscheidet auf zulässige Klagen hin, ob der Mitgliedstaat die ihm zur Last gelegte Unionsrechtsverletzung objektiv begangen hat, und er sie innerhalb der im Vorverfahren gesetzten Frist auch nicht revidiert hat.[49] Die Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens wird hierbei grundsätzlich in einem Dreischritt geprüft. Zunächst müssen die von der Kommission bzw. dem klagenden Mitgliedstaat behaupteten Tatsachen zutreffen. Danach muss geklärt werden, ob die vorgeworfenen Handlungen oder Unterlassungen rechtlich eindeutig einem Mitgliedstaat zuzurechnen sind. Drittens und letztens muss entschieden werden, ob sich hieraus ein Verstoß gegen das Unionsrecht ergibt.
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Die ersten beiden Prüfungspunkte sind – zumal in der Klausursituation – meistens unproblematisch zu bejahen. Soweit sich Zurechnungsproblematiken ergeben, können diese auch im dritten Prüfungspunkt erörtert werden. Denn die materiell-rechtliche Prüfung erlaubt es konkret im Hinblick auf die möglicherweise verletzte Norm des Unionsrechts, Handlungsverbote und Handlungspflichten des beklagten Mitgliedstaates zu untersuchen.
I. Verstoß gegen Unionsrecht
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Wie bereits dargelegt, bildet das gesamte Unionsrecht den Prüfungsmaßstab für das mitgliedstaatliche Fehlverhalten. Dies umfasst Primärrecht und abgeleitetes Recht genauso wie einschlägiges Völkerrecht, sofern letzteres als integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung anzusehen ist.
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Auf die innerstaatliche Rechtsnatur des beanstandeten Verhaltens kommt es nicht an. Es können z.B. sowohl mitgliedstaatliche Gesetze als auch verwaltungsinterne Vorschriften, Realakte oder eine verfestigte und allgemeine Behördenpraxis den Gegenstand einer Klage bilden. Unionsrechtwidrige mitgliedstaatliche Absichten sind noch nicht als Vertragsverstoß anzusehen. Die Kommission kann jedoch eine Warnung aussprechen. Sobald die nationalen Parlamente über einen unionsrechtswidrigen Beschluss abstimmen, kann sich die Kommission allerdings auf das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit berufen (Art. 4 III EUV) und Klage erheben.[50]
II. Nachweispflichten/Beweislast
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Die Kommission bzw. den klagenden Mitgliedstaat trifft eine strenge Darlegungs-und Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines mitgliedstaatlichen Unionsrechtsverstoßes.
Beispiel:
In der Rs. 287/03 führte der EuGH aus, dass es „Sache der Kommission [sei] dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen einer Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann“. Die Vertragsverletzung könne „nur durch einen hinreichend dokumentierten und detaillierten Nachweis der (…) dem betreffenden Mitgliedstaat zuzurechnenden Praxis dargetan werden“. Diese müsse allgemein und in bestimmtem Grad verfestigt sein.[51]
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Eine Umkehr der Beweislast kommt nur in Betracht, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat in seiner Verteidigung auf eine unionsrechtliche Ausnahmeregelung oder eine objektive Unmöglichkeit berufen möchte.[52]
III. Rechtfertigung des Vertragsverstoßes
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Aufgrund der objektiv-rechtlichen Natur des Verfahrens können sich die betroffenen Mitgliedstaaten in ihrer Verteidigung nur auf drei Argumente zu ihrer Verteidigung berufen. Sie können
1. | die dem Verfahren zugrunde liegenden Tatsachen bestreiten; |
2. | sich auf höhere Gewalt (force majeure) berufen, die ein unionsrechtmäßiges Verhalten objektiv unmöglich gemacht habe; dazu muss die Kommission (bzw. der antragstellende Mitgliedstaat) rechtzeitig über diese Umstände informiert worden sein; |
3. | darlegen, dass ihr Verhalten aus Rechtsgründen keine Vertragsverletzung darstellt.[53] |
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Abgesehen von dem tatsächlichen Bestreiten des Sachverhalts, das in der Praxis eher selten vorkommt, stehen dem betroffenen Mitgliedstaat ausschließlich Verteidigungsgründe zur Verfügung, die aus dem Unionsrecht abgeleitet werden können. Im nationalen Recht begründete Rechtfertigungen, insbesondere der Einwand, unionsrechtmäßiges Verhalten widerspreche nationalem Verfassungsrecht, sind nach der Rechtsprechung des EuGH unzulässig.[54] Die Mitgliedstaaten können das eigene unionrechtswidrige Verhalten auch nicht mit der Vertragsbrüchigkeit anderer Mitgliedstaaten rechtfertigen,[55] oder sich auf eine zu kurze Dauer der Umsetzungsfrist oder Schwierigkeiten bei der Auslegung einer Richtlinie berufen[56]. Das Argument, die Umsetzung einer Richtlinie stehe unmittelbar bevor, hat der EuGH ebenfalls zurückgewiesen.[57]
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › D. Entscheidung des EuGH
D. Entscheidung des EuGH
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Der EuGH entscheidet zulässige Klagen nach den Art. 258 f. AEUV durch Feststellungsurteile. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 13 II EUV) verbietet es dem EuGH, die mitgliedstaatliche Maßnahme, die den Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens bildete, für rechtswidrig zu erklären oder aufzuheben. Ebenso wenig kann der EuGH den betroffenen Staat formal zur Beseitigung seines unionsrechtswidrigen Verhaltens verurteilen. Dennoch lässt der Wortlaut des Urteils die unionsrechtlich gebotenen Maßnahmen oftmals eindeutig erkennen. Der verurteilte Mitgliedstaat ist implizit zur ex nunc-Beseitigung des unionsrechtswidrigen Verhaltens aufgefordert. Eine ex tunc-Beseitigung der tatsächlichen,