§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › E. Die Durchsetzung des Urteils
E. Die Durchsetzung des Urteils
202
Der feststellende Charakter des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 f. AEUV erlaubt grundsätzlich keine Vollstreckungsmöglichkeit. Sollte ein Mitgliedstaat die in dem Urteil des EuGH für unionswidrig erklärten Maßnahmen nicht beseitigen, kann die Kommission den EuGH erneut wegen der Nichtbefolgung des Urteils nach Art. 260 II AEUV anrufen. Art. 260 II AEUV ermöglicht es dem Gerichtshof, auf Antrag der Kommission – nicht auf Antrag eines Mitgliedstaats – einen Pauschalbetrag (d.h. eine einmalig zu zahlende Summe) oder ein Zwangsgeld (d.h. eine fortlaufende Zahlung in Tagessätzen) gegen den betreffenden Mitgliedstaat zu verhängen. Diese Sanktionen können nach Ansicht der Rechtsprechung aufgrund ihrer unterschiedlichen Zwecke auch kumulativ angewendet werden. Die Höhe der sanktionierenden Geldbußen wird von der Kommission anhand festgelegter Kriterien berechnet, darunter die Dauer und Schwere des Verstoßes und die erforderliche Abschreckungswirkung.[59] Der Gerichtshof ist an die Berechnungsmethode und den konkreten Vorschlag der Kommission zwar nicht gebunden, sieht darin aber einen „nützlichen Bezugspunkt“ für eigenständige Erwägungen, anhand derer er die finanziellen Sanktionen erlässt.[60]
203
Der Vertrag von Lissabon hat diese Sanktionsmöglichkeiten verschärft: Nach Art. 260 III AEUV besteht mittlerweile die Möglichkeit, Sanktionen bereits im ersten Verfahren nach Art 258 AEUV zu verhängen, wenn der von der Kommission vorgebrachte Vertragsverstoß die mangelnde mitgliedstaatliche Umsetzung einer Richtlinie betrifft. Art. 260 III AEUV ist jedoch etwas unglücklich formuliert, da allein auf die Mitteilung der Umsetzung und nicht auf die materielle Umsetzung der Richtlinie abgestellt wird. Es ist davon auszugehen, dass sich Art. 260 III AEUV auch und gerade auf Fälle bezieht, in denen der betroffene Mitgliedstaat keinerlei Maßnahmen zu Umsetzung getroffen hat. Sofern allerdings nur die Mitteilung unterblieben ist, die Richtlinie aber materiell vollständig umgesetzt wurde, sollte die Kommission dem EuGH keine Sanktionen gegen den betroffenen Mitgliedstaates vorschlagen.[61]
204
Ein weiterer rechtswissenschaftlicher Streitpunkt betrifft die Frage, ob und inwieweit EU-Sanktionen gegenüber den Mitgliedstaaten vollstreckt werden können. Eine Ansicht argumentiert, Art. 280 AEUV in Verbindung mit Art. 299 I AEUV schließe eine solche Vollstreckungsmöglichkeit ausdrücklich aus.[62] Gegen diese Interpretation des EU-Primärrechts spricht, dass Art. 299 I AEUV darauf abzielt, bestimmten Einzelentscheidungen der Kommission und des Rats Vollstreckungscharakter zu verleihen, während Urteile des EuGH im Sinne des Art. 280 AEUV bereits ausdrücklich vollstreckbar sind. Aufgrund dieses offensichtlichen Widerspruchs ist anzunehmen, dass Art. 280 AEUV lediglich eingeschränkt auf Art. 299 AEUV verweist, d.h. nur auf dessen Absätze 2 bis 4. Dafür spricht auch, dass die Mitgliedstaaten das Sanktionsverfahren des Art. 260 AEUV mit dem Ziel, Vertragsbrüchen effektiv entgegenzuwirken, in das Unionsrecht integriert haben. Die Möglichkeit, der Vollstreckung dieser Sanktionen zu entgehen, widerspricht demnach dem Sinn und Zweck des Art. 260 AEUV.[63] Die besseren Gründe sprechen also dafür, EU-Sanktionen aus erfolgreichen Vertragsverletzungsverfahren grundsätzlich vollstrecken zu können.
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › F. Zusammenfassung
F. Zusammenfassung
205
Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 f. AEUV bietet sowohl der Kommission als „Hüterin der Verträge“ als auch den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, mitgliedstaatliche Maßnahmen, die ihres Erachtens gegen Unionsrecht verstoßen, einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch den EuGH zuzuführen. Während die Kommission von dieser Klagemöglichkeit regelmäßig Gebrauch macht, sind die Anwendungsfälle der Staatenklage aus Gründen der politischen Opportunität äußerst selten.
206
Sowohl die Aufsichtsklage der Kommission nach Art. 258 AEUV als auch die Staatenklage nach Art. 259 AEUV setzen zwingend ein Vorverfahren voraus. Das Vorverfahren der Aufsichtsklage gliedert sich in das Mahnschreiben der Kommission, zu dem sich der betroffene Mitgliedstaat in einer begründeten Gegendarstellung äußern kann, sowie die abschließende begründete Stellungnahme der Kommission. Die Staatenklage setzt den Antrag eines Mitgliedstaates voraus, der zu einem kontradiktorischen Verfahren führt. Im Anschluss kann die Kommission eine abschließende Stellungnahme abgeben. Diese ist, im Gegensatz zur Aufsichtsklage, jedoch keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Staatenklage. In beiden Fällen darf die Klage den im Vorverfahren festgelegten Streitgegenstand nicht erweitern.
207
Das Vertragsverletzungsverfahren ist begründet, wenn der behauptete Sachverhalt zutrifft, der behauptete Verstoß rechtlich eindeutig dem Verhalten eines Mitgliedstaates zuzurechnen ist und dadurch tatsächlich Unionsrecht verletzt wurde.
208
Der EuGH entscheidet das Verfahren durch ein Feststellungsurteil. Daneben kann der EuGH auf Antrag der Kommission Sanktionen verhängen, wenn ein Mitgliedstaat das Urteil des EuGH nicht befolgt. Die Sanktionen können nach Art. 280 AEUV i.V.m. Art. 299 II bis IV AEUV vollstreckt werden.
Vertiefende Literatur:
v. Borries, Überlegungen zur Effektivität des Vertragsverletzungsverfahrens, in: Ipsen/Stüer (Hrsg.), Europa im Wandel, Festschrift für Hans-Werner Rengeling, 2008, S. 485; Gurreck/Otto, Das Vertragsverletzungsverfahren, JuS 2015, 1079 ff.; Ionescu, Innerstaatliche Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens, 2016; Lageder, Die Bindungswirkung von Urteilen im Vertragsverletzungsverfahren, 2015; Plessing, Lösung von Konflikten zwischen EU – Recht und nationalem Recht im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens – Erfahrungen aus der deutschen Rechtspraxis, in: Schwarze (Hrsg.), Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Band 1, 2012, S. 75; Wendenburg/Reichert, EU-Kommission verschärft Vertragsverletzungsverfahren erheblich – Auswirkungen auf die Bundesländer, NVwZ 2017, 1338 ff.; Wunderlich, Das Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten am Beispiel des Vertragsverletzungsverfahrens, EuR 2012, Beiheft 1, 49 ff.
Übungsfälle: Musil/Burchard, Klausurenkurs im Europarecht, 4. Aufl. 2016, Fall 15; Bast, Fortgeschrittenenklausur – Öffentliches Recht: Europarecht – Bestimmtheit strafrechtlicher Sanktionen im Binnenmarkt, JuS 2011, 1095 ff.; Krätzschmar/Nastoll, Wenn einer eine Reise tut…, JURA 2014, 63 ff.
Anmerkungen
Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht. Staatsrecht III, 6. Aufl. 2017, Rn. 264.
Arndt/Fischer/Fetzer, Europarecht, 11. Aufl. 2014, Rn. 251 und Thiele, Europäisches Prozessrecht, 2. Aufl. 2014, § 5 Rn. 1.
EuGH, Rs. 141/78, Frankreich/Vereinigtes Königreich, Slg. 1982, 2923; EuGH, Rs. C-388/95, Belgien/Spanien, Slg. 2000, I-3123; EuGH, Rs. C-145/04, Spanien/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-7971; EuGH, Rs. C-364/10, Ungarn/Slowakei, ECLI:EU:C:2012:630; gegen die in Deutschland eingeführte