d) Die Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit als Eckpfeiler der Wettbewerbsfreiheit
245
Erhebliche Bedeutung für die Ordnung des Wirtschaftslebens hat die Verbürgung der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG[545]. Sie beinhaltet eine Reihe konkreter Forderungen, auf die sich natürliche Personen sowie Körperschaften des Privatrechts und Personengesellschaften berufen können: Die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit verpflichtet die Politik zunächst, Unternehmens- und Gewerbefreiheit zu achten. Freies Unternehmertum und die dafür typische Unternehmerinitiative dürfen daher nicht völlig beseitigt und durch ein dirigistisches Wirtschaftssystem ersetzt werden[546]. Entsprechendes gilt für das Postulat eines freien Marktes, eines geordneten, aber freien Wettbewerbs und der Vertragsfreiheit im Sinne einer grundsätzlichen Abschlussfreiheit und Freiheit der inhaltlichen Gestaltung[547]. Art. 2 Abs. 1 GG verbietet damit eine lenkende Wirtschaftspolitik, die unternehmerische Freiheit in einem bestimmten Sektor in ihrem Kern unmöglich macht. Der Markt soll als Institution im Sinne einer Matrix und eines Mediums für individuelles Wirtschaften dienen[548]. Daraus folgt die Anerkennung der Wettbewerbsfreiheit als Element der allgemeinen Handlungsfreiheit[549].
246
Da nahezu jedes Handeln der öffentlichen Gewalt wirtschaftliche Auswirkungen haben kann, müssen bereits bei der Beurteilung, ob eine Maßnahme in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreift, die individuellen Freiheiten und Zuständigkeiten gegeneinander abgeschichtet werden[550]. In der Frage, ob Eingriffe in die individuelle Wirtschaftsfreiheit gerechtfertigt sind, steht der öffentlichen Gewalt andererseits gerade bei wirtschaftspolitischen Interventionen ein breiter Beurteilungsspielraum zu[551].
247
Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann aus dem von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten status positivus auch die Pflicht des Staates folgen, qualifizierte Störungen der Vertragsparität zu beseitigen[552]. Dies impliziert einen Anspruch auf strafrechtlichen Schutz, wenn die Ausübung dieser Freiheit etwa durch die Androhung von Gewalt oder besonders empfindlichen Übeln gestört werden soll. Der Umstand, dass das Grundgesetz damit von einem Modell des Marktes ausgeht, der durch Einzelhandeln entsteht und gewährleistet wird, hat für das Strafrecht erhebliche Bedeutung. Eine verfassungskonforme Interpretation der Tatbestände, die im Ergebnis den Schutz des Wettbewerbs bezwecken, ist an diese Ableitungszusammenhänge gebunden[553]. Beispielhaft soll so das durch Sanktionen gesicherte Verbot der Bildung privater Kartelle erklärt und legitimiert werden: Kartellverbote stellen entsprechend den vorgestellten Grundsätzen Verbote des freiwilligen Verzichts auf die eigene Wettbewerbsfreiheit dar. Dieser Verzicht kann zumindest partiell zu einer Störung der Marktmechanismen und damit zu Freiheitsbeeinträchtigungen Dritter führen[554]. Wegen dieser Störung Dritter ist der Verzicht auf die eigene Freiheit nicht nur unzulässig, sondern kann in schweren Fällen seinerseits mit Freiheitsbeeinträchtigungen sanktioniert werden.
e) Die Garantie der Vereinigungsfreiheit als Recht auf freie Assoziierung des Einzelnen mit Dritten
248
Die Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 GG ergänzt die anderen Freiheiten, indem sie allen Deutschen das Recht gewährt, die verbürgten individuellen ökonomischen Freiheiten auch durch eine Assoziierung mit anderen und mittels einer bestehenden Vereinigung oder Gesellschaft wahrzunehmen[555]. Sie verbürgt damit im Gegensatz zu ständischen Korporationsgedanken älterer Sozialordnungen ein liberales Assoziationsprinzip und rezipiert damit auch die Vorstellung des an die Gemeinschaft gebundenen und auf die Gemeinschaft bezogenen Individuums[556].
249
Art. 9 GG im Zusammenwirken mit den infrage kommenden „Inhaltsrechten“ setzt voraus, dass sich außenrechtliche Freiheitsgewähr, binnenrechtliche Organisation und Willensbildung der Vereinigung strukturell entsprechen. Wer die Unternehmer- und Berufsfreiheit und die Garantie des unternehmerisch genutzten Eigentums für sich in Anspruch nimmt, soll sich im Ansatz auch nach diesen Grundsätzen organisieren[557]. Ein Antrag auf Mitgliedschaft in einer Vereinigung darf daher nicht willkürlich versagt werden, wenn der Verein eine überragende Machtstellung hat und ein besonderes Interesse am Erwerb der Mitgliedschaft besteht[558]. Die innere Struktur der Vereinigung muss plural organisiert sein; sie ist auch einer gesetzlichen Regelung zugänglich, die jedoch inhaltlich die Vereinigungsfreiheit zur Schranken-Schranke hat. Wie weit die gesetzlichen Regelungen reichen können, bestimmt sich folgerichtig nach dem inneren Grund der Vereinigung. Ist die Vereinigung – zum Beispiel eine Aktiengesellschaft – von ökonomischen Interessen dominiert, können die Mitgliedschaftsrechte anstatt von Art. 9 GG durch die Grundrechte der Art. 2, 3, 12 und 14 GG und allgemeine Verfassungsprinzipien, wie etwa die Prinzipien der Rechts- und Sozialstaatlichkeit, bestimmt sein[559].
250
Der verbürgte Schutz erfasst nicht nur den Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung, sondern alle zum Erhalt und zur Sicherung der Vereinigung notwendigen Tätigkeiten. Dazu kommt das Recht, die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch eine spezifisch koalitionsmäßige Betätigung zu verfolgen[560]. Damit wird wie in den Art. 159 und 165 Weimarer Verfassung zunächst die Freiheit der Gewerkschaften geschützt, darüber hinaus aber auch die von Arbeitgebervereinigungen[561].
251
Art. 9 GG gewährleistet damit eine Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, bei der der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen und die Bestimmung über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitslebens grundsätzlich den Koalitionen überlassen hat[562]. Erst recht ist damit der Einsatz des Strafrechts zur Durchsetzung der Vereinigungsfreiheit allenfalls in Extremfällen legitimierbar. Austariert wird die Ordnung des Arbeitslebens in erster Linie durch die Tarifautonomie[563]. Mit ihrer Hilfe soll die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern ausgeglichen und ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und der wesentlichen übrigen Arbeitsbedingungen ermöglicht werden[564]. Um diese Verhandlungsparität zu gewährleisten, sind auch Arbeitskampfmaßnahmen zulässig[565]. Für das Strafrecht ist damit auch eine wichtige Grenze des Bereichs tatbestandsmäßigen Verhaltens bei der Nötigung gesetzt. Umgekehrt gewährt Art. 9 Abs. 3 GG nicht die uneingeschränkte Befugnis, alle denkbaren Kampfformen einzusetzen[566]. Das Strafrecht ist damit nicht gänzlich ausgeschlossen, es muss aber grundsätzlich neutral sein[567].
252
Da es dem Recht außerdem verwehrt ist, eine konkrete Organisation assoziierten Individualverhaltens vorzuschreiben, kann das Strafrecht hier allenfalls Randbereiche betreffen und minimale Standards absichern[568]. Größere Bedeutung hat die Vereinigungsfreiheit insgesamt beim Zurückdrängen bestimmter Strafnormen, soweit etwa die gewerkschaftliche Präsenz im Betrieb, die gewerkschaftliche Betätigung in Betriebsräten oder die außergerichtliche Beratung der Mitglieder an sich Tatbestände mit einer allgemeinen Zwecksetzung erfüllen[569]. Das Zurückdrängen des Strafrechts an dieser Stelle entspricht freilich den aufgestellten wirtschaftstheoretischen Postulaten und zeigt die Konsistenz der verfassungsrechtlichen Rahmenordnung[570].
2. Integration der Wirtschaft in die Europäische Union und die Folgen für die Wirtschaftsverfassung
253
Konkretere Vorgaben für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung folgen aus der supranationalen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union. Für das Wirtschaftsstrafrecht sind diese Vorgaben indessen nicht von prinzipieller Bedeutung.
Die Unionsverträge erfüllen auf supranationaler Ebene zwar die Funktionen, die national einer Verfassung zukommen[571], und sie verpflichten die Union und ihre Mitgliedstaaten in den Art. 3 Abs. 3 EUV, 101 ff., 106 ff., 120 AEUV auf die Grundsätze einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb[572]. Ebenso stellt die Europäische Union eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ als wirtschaftspolitisches Leitprinzip in den Vordergrund[573]. Die Europäische